Kommentar zur Bundestagswahl Nach 16 Jahren zurück auf Los

Auf den engen Ausgang der Bundestagswahl folgen lange, zähe, heftige, harte Koalitionsverhandlungen, meint Chefredakteur Marcel Auermann.

 
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Es ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Am Ende entscheidet womöglich ein Fotofinish über den Sieger dieser Bundestagswahl. Das dürfte in den Parteizentralen einige vor Aufregung abgeknabberte Fingernägel bedeuten. Deutschland steht an diesem Wahlabend genauso da wie zu Beginn der Ära Merkel. Was für ein Zeichen! Etwa ein Zeichen, dass sich in 16 Jahren fast nichts bewegt hat? Es wäre bitter.

Erinnerungen an die legendäre „Elefantenrunde“ vom 18. September 2005 werden wach. Damals standen Union und SPD bei 35 Prozent. Heute handelt es sich fast wieder um gleiche Werte – allerdings um deutlich niedrigere. Die Union erzielt ihr historisch schlechtestes Ergebnis. Und das in einem Wettbewerb mit der SPD, die vor wenigen Wochen als abgeschrieben galt. Das ist dann doch eine überraschende Wende, die Armin Laschet noch mehr beschädigt als ohnehin schon. Markus Söder dürfte sich – natürlich ganz klammheimlich – ins Fäustchen lachen.

Vielleicht wäre es gut, wenn Laschets Union in die Opposition verfrachtet wird. Er würde ein Tollpatsch-Kanzler, ein Fettnapf-Regierungschef, ein blamabler Vertreter in der Welt werden, der von einer Peinlichkeit zur nächsten rumpelt. Zu den ohnehin schon genügend unglücklichen Bildern, die er in den vergangenen Wochen und Monaten produzierte, kam am Wahltag ein weiteres hinzu. Bei der Stimmabgabe in seinem Wahllokal in Aachen hat er den Stimmzettel so gefaltet, dass beim Einwerfen in die Urne seine Kreuze für die CDU zu erkennen waren. Das ist sicher keine Überraschung. Was sollte er auch sonst wählen? Trotzdem macht so etwas sprachlos. Einem Politprofi wie Laschet passiert so etwas. Ist es denn die Möglichkeit?

Hinter der Aktion mag Taktik gesteckt haben, um bis zuletzt für seine Partei („Beide Stimmen für die Union“) zu werben. Da lagen wohl – zu Recht – die Nerven blank. So drastisch die Frage auch klingen mag, aber sie muss gestellt werden: Kann man jemandem das Kanzleramt zutrauen, der noch nicht einmal den Akt des Wählens beherrscht? Wohl kaum. Wie soll einer das Schicksal der Republik und von 83 Millionen Bundesbürgern bestimmen, wenn er nicht einmal die Grundlagen der Politik kennt. Selbst auf der Seite des Bundestags steht: „Jedes Schulkind lernt: Die Wahlen zum Deutschen Bundestag sind allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim.“ Wie peinlich für den Kanzlerkandidaten der Union.

So anstrengend der Wahlkampf gewesen sein mag, die Koalitionsverhandlungen werden bei diesen Voraussetzungen noch schwieriger, langwierig, zäh, heftig, hart. Die Spitzen von Union, SPD, Grünen, FDP und ganz, ganz vielleicht den Linken werden sich die Köpfe heißreden – über Tage, über Wochen, ja über Monate hinweg. Wird’s Jamaika? Wird’s eine Ampel? Wohl eher keine weitere große Koalition und auch kein Rot-Rot-Grün. Christian Lindner wird es diebisch freuen. Seine FDP wird für eine Regierung der Mitte gebraucht. Aber, Vorsicht: Nach diesem volatilen Wahlabend sollte keiner zu früh feiern.

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