Kirchenjubiläum Aufruhr wegen Schmalkalder Plörre

Vor 300 Jahren weihten die Asbacher ihre neue Dorfkirche ein. Ein Grund zum Feiern. Auch in der damaligen Zeit? Historiker Kai Lehmann überrascht mit spannenden Antworten.

 
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Sie hatten eine kurze oder gar keine Kindheit. Heirateten jung, sorgten für Nachwuchs, waren ungebildet, arbeiteten hart – und starben früh. Mit 40 Jahren galt man als Dino, mit maximal 50 war Mann, Frau etwas später, tot. Unabhängig von Herkunft und Stand. Die armen Menschen der frühen Neuzeit. Bedauernswerte Geschöpfe. Aber war dieses Zeitalter zwischen Spätmittelalter und dem Übergang zum 19. Jahrhundert wahrlich so grausam, wie uns so manches Geschichtsbuch glaubhaft versichern will? Ein Zeitalter, in dem um 1450 Johannes Gutenberg den modernen Buchdruck erfand, 1492 Christoph Kolumbus Amerika entdeckte, 1517 die Reformation in Deutschland begann – und die Gemeinde Asbach 1723 eine neue Dorfkirche einweihte?

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Viele Vorurteile, sagt Schmalkaldens Museumsdirektor Kai Lehmann. Im voll besetzten Asbacher Gotteshaus schilderte er am Montagabend, wie die Menschen wirklich in der frühen Neuzeit lebten und liebten, lernten und arbeiteten, feierten und starben. Wie das Leben der Asbacher vor etwa 300 Jahren aussah. Oder das ihrer Nachbarn im Umland.

Der promovierte Historiker ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet – und ein begnadeter Erzähler. Über eine Stunde lang nahm er seine Zuhörer mit auf eine spannende, informative, amüsante und kurzweilige Zeitreise durch drei Jahrhunderte. Lehmann schaffte es spielerisch, auch mit trockenen Zahlen und Daten Spannung zu erzeugen, statistische Themen lebendig werden zu lassen. Die Kirche – ein historischer Lernort.

Der Vorstand der evangelischen Kirchengemeinde hatte den promovierten Historiker für den Vortrag gewinnen können, als Auftakt zu vielen weiteren Veranstaltungen anlässlich 300 Jahre Asbacher Kirche.

Frei von der Leber weg, ohne Manuskript oder Stichwortzettel beschrieb Kai Lehmann den frühneuzeitlichen Menschen. Gewissermaßen von der Wiege bis zur Bahre. Seine Quellen sind vor allem die Kirchenbücher, zwar langweilig zu lesen, wie er zugab, aber sehr aufschlussreich. Wenn man die Eintragungen hinterfragt – und der seinerzeit amtierende Pfarrer fleißig, diszipliniert und ausführlich die Ereignisse notiert hat.

Gleich zu Beginn räumte Lehmann mit historisch falschen Bildern auf. Eines davon: Die Menschen seien früh gestorben. Freilich habe es eine hohe Kindersterblichkeit gegeben, räumte der Historiker ein. Aber war erst einmal das dritte Lebensjahr erreicht, konnte man 70, 80 Jahre alt werden. Was folgende Einträge im Obermaßfelder Kirchenbuch von 1687 untermauern: Mit 73 Jahren wurde eine Bewohnerin der Hurerei und des Ehebruchs bezichtigt; und am Ostermontag stürzte ein 86-Jähriger betrunken vom Pferd. Lässt das auf bedauernswerte Menschen schließen, die keinen Spaß am Leben hatten und jung zu Grabe getragen wurden? Gelächter im Kirchenraum.

Der Referent fuhr fort: Die Gesellschaft im 17. Jahrhundert war feierwütig. Auch in der Herrschaft Schmalkalden, zu der das Dörfchen Asbach mit seinen rund 436 Bewohnern (1770) gehörte, wurde keine Gelegenheit ausgelassen, das Glas Bier, Wein oder Branntwein zu erheben. Zur Geburt, zur Taufe, zur Hochzeit, an den kirchlichen Feiertagen. Allerdings mussten die beiden Asbacher Wirte das von Schmalkalder Bürgern gebraute und als „Plörre“ verschrieene Gebräu ausschenken. Ob sie sich an dieses Gesetz hielten? Der Experte schmunzelte wissend in sich hinein. Nur so viel: Im Jahre 1666 „fiel“ die Schmalkalder Bürgerwehr mit 130 Mann in Asbach ein, um geschmuggeltes Naumburger Bier zu beschlagnahmen. Laut Lehmann endete der „Bierkrieg“ mit einem toten Dorfbewohner.

Freilich mussten sich auch die Menschen im 17. Jahrhundert an Gesetze halten, berichtete Lehmann. Volltrunkene Väter und Paten vor der Taufe, bezechte Pfarrer, die die Gevatterbitten nicht mehr sprechen konnten, ausschweifende Feste, abgeholzte Wälder, Verschwendung von Wärme und Energie: Das war der Herrschaft irgendwann zu viel. Sie reagierte mit verschiedensten Erlässen, Verordnungen und Verboten. Sie griff in alle Lebenslagen ein, berichtete Lehmann. Auch, um die Untertanen zu schützen, vor Notlagen und Verschuldung zum Beispiel, wenn mal wieder zu arg und ausschweifend gefeiert worden ist.

Die Bürokratie ist keine Erfindung der Neuzeit, sondern eine des Reformationszeitalters, räumte der Museumsdirektor mit einem weiteren Vorurteil auf.

Die Menschen, die zur Entstehungszeit der Asbacher Kirche lebten, standen vor Problemen, die den Menschen 300 Jahre später irgendwie vertraut sind. Wurden Bäume gefällt, mussten neue gepflanzt, gehegt und gepflegt werden. Auch auf den Dörfern. Damit wollte die Obrigkeit weiteren Kahlschlag verhindern. Privat zu backen wurde verboten. Alle sollten die öffentlichen Backhäuser nutzen. Um Holz zu sparen. Damals wie heute stellten die Ärzte ihr Honorar auf der Grundlage eines Kosten-Katalogs in Rechnung. Die Armen wurden, hatten sie einen Schein, kostenlos behandelt. Auf den Dörfern klagte man schon im 17. Jahrhundert über einen Mangel an Medizinern. Heute sind Rauchmelder gefordert, damals waren es zwei lederne Wassereimer, die jeder im Haus zu stehen hatte. Wegen des Brandschutzes. Zweimal im Jahr musste die Hauseigentümer ihre Feuerstellen überprüfen lassen wie W sie jedes Jahr eine Grundsteuererklärung abgeben mussten. Ob mit Freude oder Widerwillen ist nicht überliefert. Aber Spaß daran werden die Vorfahren sicherlich auch nicht gehabt haben.

Kurz streifte Kai Lehmann auch das Thema Schule und Bildung. Damals wie heute wurde auf die ungebildete, unzuverlässige Jugend geschimpft; offenbar ein Volkssport, scherzte der Referent. Nur das eigene Erleben scheint gut. Dagegen hätten unsere Vorfahren großen Wert auf eine gute humanistische Bildung gelegt, mit einheitlichen Schulbüchern, Stipendien für ärmere Kinder, „weil gebildete Menschen gebraucht werden“, wie es unter anderem in der Schulordnung der Lateinschule Schmalkalden von 1618 heißt.

Und noch etwas verriet Kai Lehmann an diesem Abend in der schönen Dorfkirche: Dank unserer Vorfahren haben wir heute sechs Feiertage weniger, darunter die dritten nach Weihnachten, Ostern und Pfingsten. Abgeschafft von der Obrigkeit im Jahre 1701. Und warum? „Weil die Leute damals einfach zu viel gesoffen haben.“