Kinder- und Jugend-Theaterpremiere Wenn Deutsche flüchten müssten

Ulrike Scherzer
Mit nur wenigen Requisitengelang eine beeindruckende Premiere zum Thema Krieg, Flucht und Frieden. Foto: /Ulrike Scherzer

Ausverkauft war in Meiningen das szenisch-choreografische Lesungsprojekt „Krieg. Flucht. Frieden? – Ein Perspektivwechsel“, aufgeführt vom Jugendensemble „Tohuwabohu“.

 
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Ausverkauft war das szenisch-choreografische Lesungsprojekt „Krieg. Flucht. Frieden? – Ein Perspektivwechsel“. Aufgeführt wurde es vom Jugendensemble unter der künstlerischen Leitung von Elke Büchner und ihrer Projektmitarbeiterinnen Carla Witte und Janine Hoffmann.

Stühle, schwarze Schirme und schwarze Buchkladden – mehr brauchte es für die fünfzehn Darsteller ab zwölf Jahren nicht, um das schwierige Thema Krieg, Flucht und Frieden dem Publikum eindrucksvoll nahe zu bringen. Barfuß, in Bluejeans und weißem T-Shirt huschten sie zu Beginn, unter ihre schwarzen Regenschirme geduckt, über die Bühne. Die Belüftungsanlage im Raum sorgte für ein so starkes Rauschen, dass es auch ein imaginärer Regen hätte sein können.

Zwei Darsteller trugen im Gegensatz zu den anderen schwarze Schuhe, weißes Hemd und rote Krawatte. Sie durften, mit Stift und Unterlagen ausgestattet, an einem Holztisch Platz nehmen und von da ab die bürokratische, schreibende Instanz verkörpern. Der Rest nahm stattdessen auf einzelnen Stühlen Platz: „Die da! Die Barbaren... die sich nicht integrieren wollen, lieber unter sich bleiben, die bürgerliche Zivilgesellschaft zersetzen und mit Terror drohen“. Die Vorwürfe klangen zunächst schroff und plakativ, mit anklagend erhobenem Zeigefinger in den Zuschauerraum hinein.

Hilflos wehrten sich die Angeprangerten mit oft gehörten Sätzen, wie: „Wir haben für sie keinen Charakter, kein Gesicht, kein Recht. Sie projizieren ihre Intoleranz auf uns.“. Einen Bruch führte die fragende Stimme des Jüngsten im Ensemble in die beklemmende Szene. „Wenn bei uns Krieg wäre, wohin würdest du gehen?“

Die folgenden erzählten Bilder wurden jedoch keinesfalls aufmunternder. Mit einer konzentrierten Kontinuität schafften es die jungen Schauspieler, die Spannung und Angst mit großer Ernsthaftigkeit bis zum letzten Satz zu halten. Inspiriert von Janne Tellers Buch „Krieg. Stell dir vor, er wäre hier“ steuerten dazu Jasmin Kunz, Miriam Ellinor Dienesch-Zikeli, Jacob und Karin Simon, Nalen Janan und Tizian Lachmuth sowie Elke Büchner eigene Texte bei. Eine Kladde hatten sie zwar alle auf der Bühne in der Hand. Doch nur die persönlichen Geschichten von Miriams Uroma Marie, Jakobs Oma Karin und dem syrischen Mädchen Nalen wurden tatsächlich gelesen. Sie traten heraus aus der anonymen Menge der Flüchtlingsmasse.

Offenheit gewünscht

Die 1933 in Siebenbürgen geborene Marie, die mit zwölf Jahren mit ihrer Familie nach Deutschland fliehen musste, aber stattdessen vier Jahre im Uralgebirge in einer Kohlemine schuftete. Ihre Familie hielt sie für tot. Erst Jahrzehnte später hörte sie wieder von ihrer Schwester, die inzwischen in Kanada lebte.

Mit ihrer achtjährigen Tochter, der Mutter des vortragenden Jacob, floh Karin Simon mit weiteren Familien 1989 über Ungarn aus der DDR. Mit „der Wut und dem Mut der Verzweifelten“ bogen sie den Drahtzaun, der eigentlich an der ausgesuchten Stelle offen sein sollte, nach erstem Schreck und Angst mit bloßen Händen auf. Sie schafften es und hofften fortan auf ein „selbstbestimmtes Leben ohne Rücksicht auf Ideologien“.

Ungefähr so alt wie die darstellenden Jungen und Mädchen des Ensembles ist Nalen aus Syrien. Ihr Fluchtweg führte von Syrien über die Türkei, Athen, Mazedonien, Serbien, Kroatien nach Slowenien, über Österreich bis Passau, München, Jena, Mühlhausen, Zella-Mehlis und seit nun drei Jahren ist sie in Meiningen angekommen. In ihrem von zwei jungen Darstellern vorgetragenen Bericht bedauert sie, dass sie kaum Kontakt zu Gleichaltrigen hat, da viele sehr distanziert wären. Das mache ihr das Deutsch-Lernen noch schwerer. Sie wünscht sich mehr Offenheit und kein ständiges Pauschalisieren. Was sie vermisst, sind ihre Freunde, ihre Schule, aber auch das syrische Eis. Doch, so erkennt sie resigniert, in ihrem Heimatland hätte sie keine Zukunftsaussichten.

Das sind die Geschichten, wie sie jedem zum Thema Flucht und Krieg regelmäßig begegnen. Sie kommen durch Familien, Freunde und andere Kontakte immer wieder in die persönliche Reichweite. Doch die Rahmenhandlung des Bühnenspiels trat dem Betrachter noch näher.

Ein Perspektivwechsel, so der Untertitel. „Der Krieg fing an, weil Deutschland in Europa nicht mehr mitmachen wollte!“ Fiktiv sind Deutsche nun die Flüchtenden in die arabische Welt. Hier sitzen die beiden am Schreibtisch, die entscheiden, ob es eine Aufenthaltsgenehmigung gibt. „Scheiß Bastarde“ brüllte die Masse stimmgewaltig synchron. Der Spieß wurde umgedreht. Und warum schnürte es allen im Saal die Kehle zu, wenn ausdrucksstark erzählt wurde, wie die Geflohenen versuchen sich im anderen Land anzupassen, aber es doch nur heißt: „Du kannst deine blauen Augen nicht verstecken!“ Wie Marionetten an Fäden bewegte sich die Gruppe immer wieder in choreografierten, mit Musik unterlegten Szenen. Eine absolut homogene Gruppe, die genau dadurch bestach und ihre Botschaft eindringlich, am Ende ohne erhobenen Zeigefinger, sondern mit energiegeladener Spannung, weitergeben konnte. „Du lebst in Frieden, trotzdem bist du ein Fremder und träumst von zu Hause. – Nach Hause!?“ Wo auch immer das ist.

Die nächste Vorstellung beginnt am morgigen Dienstag, 31. Mai, um 19 Uhr im Rautenkranz.

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