Journalismus in den USA Papierzeitung erinnert an Steinzeit

Florian Kirner

Der Hildburghäuser Florian Kirner arbeitet als Journalist für unseren Verlag, verbrachte die vergangenen Wochen in den USA und schaute, wie sich die Arbeit der Kollegen dort von unserer unterscheidet. Dabei wird klar: Lokaljournalismus ist ein wichtiges Medium, offenbart sich als Printprodukt allerdings wie ein Relikt vergangener Zeiten. Digital ist normal!

 
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Der US-Präsidentschaftswahlkampf läuft auf Hochtouren und an der PR-Strategie der Kandidaten lässt sich die veränderte Mediennutzung klar ablesen. So tingeln Trump und Harris - neben den Besuchen bei den großen Fernsehsendern - von Podcast zu Podcast. Trump bei Lex Fridman, Harris bei „Call her Daddy“ und jeweils beide demnächst bei Joe Rogan. Diese Podcasts generieren Millionen Klicks und haben den Vorteil, sehr präzise in konkrete Zielgruppen zu wirken. Um Latinos anzusprechen, beantwortete Harris Fragen bei „Univision“. Afro-Amerikaner erreicht sie über „Charlemagne“. Aber das ist der Wahlkampf. Wie informieren sich die US-Amerikaner im Alltagsbetrieb? Die erste Antwort lautet: die Anteilnahme des durchschnittlichen US-Bürgers an der Tagespolitik ist ziemlich übersichtlich. Die zweite Antwort lautet: über das Mobiltelefon. 78 Prozent aller Webseiten-Aufrufe erfolgen über das Handy.

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Wer aber bildet das Leben in seiner Breite ab? Wer übernimmt die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt entscheidende Aufgabe, nicht nur Zielgruppen zu bedienen, sondern das ganze Geschehen tagesaktuell zu begleiten?

Es zeigt sich, dass diese Aufgabe nach wie vor bei den klassischen Medien liegt. Um das zu leisten, was beispielsweise eine Lokalzeitung für einen konkreten Ort oder eine Region anbietet, braucht es mehr als einen charismatischen Host auf YouTube und zwei Leuten, die sich um Videoschnitt und Suchmaschinenoptimierung kümmern. Dafür braucht es immer noch eine Redaktion und klassischen Zeitungsjournalismus.

In Boulder, einer Kleinstadt nahe Denver, mache ich mich auf die Suche nach Printprodukten der dortigen Kollegen. Es erscheint aussichtslos. Immerhin gibt es Mehdi. Der verkauft Süß- und Backwaren im Supermarkt und gibt an, selber immer noch gedruckte Zeitungen zu bevorzugen. Allerdings liest er die New York Times, denn er ist eher an Weltpolitik interessiert.

Vor einem größeren Einkaufszentrum mit Getränkehandlung und Imbiss stoße ich dann doch noch auf ein geradezu nostalgisches Bild: Zeitungskästen! Echte Zeitungskästen! Neun Stück nebeneinander sogar. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich: zwei der Kästen sind völlig ramponiert und leer. Darunter der Kasten der „Colorado Daily“, es war einmal. . . vier andere enthalten Gratiszeitungen. Die „Prime Time News“, für „Colorados ältere erwachsene Bevölkerung“, sowie das Heft „Boulder County Kids“ für die Jungen, das alle Vierteljahre erscheint. Dazu kommen zwei kostenlose „Käseblätter“, wie sie auch hier bekannt sind: „Weekly“ beschreibt sich als unabhängige Stimme und der „50 Plus Marketplace“ titelt mit dem neuen Polizeichef von Boulder City. Aber in der Hauptsache haben wir die sattsam bekannte Kombination von Anzeigen, die den Großteil der Postille ausmachen, Vereinsnachrichten und Veranstaltungshinweisen vor uns. Journalismus ist das eher nicht.

Dazwischen aber finde ich endlich, endlich den Zeitungskasten der „Boulder Daily Camera“. Euphorisch werfe ich Münzen in den Schlitz - und sofort weicht meine Nostalgie der Erinnerung an frühere Ärgernisse. Die Münzen fallen durch. Im dritten Anlauf gelingt es mir, eine Ausgabe der Lokalzeitung zu ergattern.

Gibt es noch gedruckte Lokalzeitungen?

Auf der Titelseite - ich befinde mich eben doch in den USA - geht es darum, dass Drohungen gegen Schulen in Colorado um 47 Prozent zugenommen haben. Darunter wird über die Wahlvorbereitungen in Boulder County berichtet, sowie über Pläne, mehr Wohnraum für Studenten zu errichten. Das fühlt sich bekannt an, aber die Rührung über diese papierne Lokalzeitung wird etwas getrübt durch die Information auf Wikipedia, dass die Daily Camera seit 2013 der Medienholding „Digital First Media“ gehört. Die wiederum befindet sich im Besitz von „Alden Global Capital“, einem Hedgefonds mit Sitz in Manhattan. . .

Vor dem Imbiss sitzen Chuck und Rob, vielleicht Mitte 50. Sie unterhalten sich angeregt und ich schalte mich mit der Frage ein, wie sie sich eigentlich über die lokalen Ereignisse auf dem Laufenden halten? „Daily Camera“, sagen beide sofort. Online oder in Papierform, frage ich weiter. Digital natürlich, wundern sich die beiden und sind sich gar nicht sicher, ob es die Daily Camera überhaupt noch als Printprodukt gibt. Als ich stolz meine Papierzeitung zeige, schauen sie mich an, wie einen Archäologen, der eine Steintafel mit Keilschrift präsentiert. . .

Und die Deutschen so?

Neun Minuten?
Die Menschen in Deutschland lesen etwas weniger als früher: 27 Minuten am Tag verbringen Menschen ab zehn Jahren im Durchschnitt mit dem Lesen von gedruckten oder digitalen Medien, wie das Statistische Bundesamt (Destatis) nach Ergebnissen der Zeitverwendungserhebung 2022 anlässlich der Frankfurter Buchmesse mitteilt. Das waren fünf Minuten weniger als zehn Jahre zuvor. Zum Vergleich: Mit durchschnittlich zwei Stunden und acht Minuten wurde mehr als viermal so viel Zeit für Fernsehen wie für Lesen aufgewendet. Wenn die Menschen lesen, dann am ehesten Bücher. Auf das Lesen von Zeitungen entfielen neun Minuten täglich.

Zeitung
lesen über 35,5 Millionen Bundesbürger regelmäßig. Deutsche Tages- und Wochenzeitungen erreichen die Hälfte der deutschen Bevölkerung: 50,4 Prozent. Die Tageszeitung ist für 33,7 Millionen Menschen täglicher Begleiter. Das entspricht einer Leserschaft von 47,7 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung.

Stärkste Gruppe
im Zeitungsmarkt sind mit Abstand Regional- und Lokalzeitungen. Sie erreichen Tag für Tag 28,1 Millionen Menschen - das sind 39,8 Prozent der Bevölkerung.