Intensivmediziner im Interview „Wer soll die Patienten versorgen, wenn nicht wir?“

Ein Intensivpatient mit Covid-19 aus Südthüringen wird von medizinischem Personal am Dienstagnachmittag im Zentralklinikum Suhl betreut. Foto: /SRH Zentralklinikum Suhl

Dr. Raimondo Laubinger ist als Chefarzt der Intensivmedizin im SRH-Zentralklinikum Suhl mit dem Thema in der Region so gut vertraut wie sonst niemand. Er koordiniert die intensivmedizinische Behandlung der Covid- Patienten. Ein Gespräch.

 
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Die Pandemie bringt die Menschen an ihre Grenzen. Körperlich und seelisch. Kinder, Familien, Alte: Alle sind gefordert. Vor besondere Herausforderungen stellt die aktuelle Situation allerdings das medizinische Personal, die Pflegekräfte und all jene, die unmittelbar mit den Menschen zutun haben, die an Covid-19 erkrankt sind, und deren Angehörigen.

Raimondo Laubinger ist als Chefarzt der Intensivmedizin im SRH-Zentralklinikum Suhl mit dem Thema in der Region so gut vertraut wie sonst niemand. Laubinger koordiniert die intensivmedizinische Behandlung der Covid- Patienten für ganz Südthüringen bis hin zur kürzlichen Verlegung in Krankenhäuser im Norden der Bundesrepublik. Ein Gespräch mit dem Suhler Intensivmediziner:

Herr Dr. Laubinger, alle reden vom Volllaufen der Intensivstationen, Sie sehen das Tag für Tag ganz konkret. Wie schlimm sieht es aktuell aus auf den Südthüringer Intensivstationen?

Nachdem wir in der vergangenen Woche aus Südthüringen insgesamt acht Patienten in norddeutsche Bundesländer verlegt haben, ist die Lage etwas beherrschbarer geworden. Aktuell sind ungefähr ein Drittel der Intensivbetten in Südthüringen mit Corona-Patienten belegt. Das heißt aber nicht, dass die anderen Intensivbetten leer stehen würden. Hier werden schwerkranke Patienten ohne Corona behandelt. Um das zu schaffen, haben wir unsere planbaren Operationen stark eingeschränkt, was mir für alle Patienten, deren Behandlung wir verschieben mussten, wirklich leid tut.

Wie hoch ist der Anteil der geimpften und der der ungeimpften Patienten mit Covid-19, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen?

Der Anteil der Geimpften ist überall in Thüringen annähernd gleich und liegt bei etwa 10 bis 15 Prozent. In konkreten Zahlen: Von meinen gerade elf Covid-Patienten auf der Intensivstation sind neun ungeimpft, acht werden künstlich beatmet. Meine Patienten sind zwischen 34 und 79 Jahren alt. Die Altersgipfel zeigen sich zwischen 50 und 59 Jahren und 60 bis 69 Jahren. Da deckt sich unsere Situation mit der bundesweit beobachteten.

Wie hoch ist der materielle und medizinische Aufwand, der betrieben wird?

Die intensivmedizinische Versorgung ist immer besonders personal- und materialaufwendig. Bei Covid-Patienten ist der Aufwand aber sogar noch etwas größer: Die beatmeten Patienten befinden sich in einem künstlichen Koma. Bei schlechter Lungenfunktion bringen wir sie öfter in die Bauchlage, um das Verhältnis zwischen Durchblutung und Belüftung der Lunge zu verbessern. Sie verbringen 16 Stunden am Tag auf dem Bauch, acht auf dem Rücken.

Zum Umlagern, das wir zweimal täglich machen, brauchen wir sechs Leute. Das ist nicht mal eben so umdrehen, mit Beatmungsschlauch, Messsensoren fürs EKG, Blutdruck, Puls, Sauerstoffsättigung, zahllosen Perfusoren und Infusionen, Magensonde zur Ernährung und Blasenkatheter.

Wir sind zur Behandlung der Patienten in besonderer Schutzausrüstung unterwegs: FFP3-Maske, Schutzschild, doppelte Handschuhe und ein virendichter Overall, in dem man sich nach einer Stunde Arbeit fühlt wie nach dem zweiten Saunagang. Also: Es ist für alle Beteiligten anstrengend. Physisch und psychisch.

Wie erleben Sie und Ihre Mitarbeiter derzeit den Alltag auf der Intensivstation im Zentralklinikum?

Die eine Intensivstation gibt es nicht mehr. Wir sind von einer Intensivstation mit 22 Betten aus Hygienesicht auf zwei räumlich getrennte Intensivstationen umgezogen. Auf der Covid-Intensivstation behandeln wir in Suhl zwölf Patienten, auf der Nicht-Corona-Intensivstation zehn. Alleine durch diese Trennung ist der Alltag bereits durcheinandergeraten. Für zwei Stationen brauchen Sie natürlich zwei Teams, also Mitarbeiter, Mitarbeiter, Mitarbeiter. Aber das sind ja nur die logistischen Voraussetzungen.

In unserem Alltag freuen wir uns über jeden, der unsere Station wieder Richtung Normalstation verlassen kann, weil er auf dem Weg der Besserung ist.

Und wir sind traurig, einfach traurig über jeden, der auf unserer Station trotz aller Bemühungen verstirbt. Vor allem weil es manchmal so unnötig ist! Weil eine Impfung diesen schweren Verlauf mit allergrößter Wahrscheinlichkeit verhindert hätte. Wir versuchen uns zu motivieren, wo es geht, weil wir körperlich und psychisch erschöpft sind. Unsere Batterie ist einfach leer. Ja, so kann man das sagen.

Zwischen den Corona-Wellen gab es für uns keine Erholung, weil wir dazwischen die verschobenen Operationen nachholen mussten. Damals… das Jahr 2021 kommt mir wirklich unendlich lang vor. Wir arbeiten seit fast zwei Jahren unter Dauerdruck, nicht nur in Südthüringen, sondern dies gilt für alle Intensivstationen und Anästhesieabteilungen in Deutschland.

Was sind das für Menschen, die dort arbeiten?

Na, das sind ganz normale Menschen: Ihre Nachbarin vielleicht oder die Bekannte die Straße runter. Der Vater aus dem Sportverein. Also wirklich normale Menschen wie wir alle, mit Familien, mit Hobbys, mit guten und mit schlechten Tagen. Aber natürlich hoch spezialisiert und fachlich extrem gut weitergebildet. Sie wissen extrem gut, was sie tun, sind ein eingespieltes Team. So wie im OP beispielsweise auch oder auf anderen spezialisierten Stationen.

Deshalb ist es ja auch so schwer, das Team mir nichts dir nichts zu verstärken oder Ausfälle über Nacht auszugleichen. Wenn dann jemand sagt: Aber ihr habt doch über Tausend Leute in eurem Klinikum, das kann doch nicht so schwer sein. Ja klar, aber auch wenn eine Flugbegleiterin seit acht Jahren im Flugzeug mitfliegt und einen großartigen Job macht, würden Sie vielleicht nicht wollen, dass sie es landet. Jeder hat seine eigene Nische, seine Spezialisierung.

Welche Erfahrungen machen Sie mit den Corona-Patienten und deren Angehörigen?

Die Erfahrungen sind ganz unterschiedlich. Es gibt diejenigen, die extrem dankbar sind. Die uns ein bisschen auch geläutert verlassen und die nach der Intensivbehandlung anders über ihren Impfstatus denken. Eine Behandlung mit Schlauch im Hals macht was mit den Patienten und ihren Angehörigen.

Es gibt aber – in letzter Zeit häufiger – wirklich schwierige Situationen mit Angehörigen. Dauerdiskussionen, bei denen auch die Therapien auf der Intensivstation zur Debatte stehen und uns zum Teil wirklich haarsträubende, krude Vorwürfe an den Kopf geworfen werden: Langer Arm der Pharma-Konzerne, Knechte der Corona-Politik und sonst welcher Blödsinn. Das macht mich natürlich wütend.

Wir sind in der Situation, dass meine Kolleginnen und Kollegen, unsere Pflegekräfte, wir alle dafür arbei-ten, unsere Patienten gesund zu machen. Wir wollen ihnen über den Berg helfen. Wenn dann jemand hinter dir steht und dich beschimpft oder sogar bespuckt – wie schon geschehen – macht das alles nicht leichter. Die Arbeit ist manchmal auch deshalb psychisch belastend, weil sie Angst machen kann. Wir wollen unsere Patienten versorgen und nicht Puffer einer gespaltenen Gesellschaft sein.

Und in den sozialen Medien geht es oft genug heftig zur Sache...

Soziale Medien spielen dabei ihre Rolle, Verschwörungstheorien... Es hat ja auch Ihre Zeitung schon berichtet: In die Diskussion kann man da kaum gehen. Wir sehen, dass sich die Meinungen verfestigen, die aber in keiner Weise auf einem wissenschaftlichen Diskurs basieren. Diese kruden Meinungen sind gefühlt wie Öl im Wasser: Ein Tropfen reicht, um Tausend Liter zu verunreinigen.

Mediziner oder „Angehörige der Heilberufe“, die öffentlich in dieser Phase meinen, das Ende aller Corona-Maßnahmen fordern zu müssen, sind da keine Hilfe für die Intensivstationen, die am Ende ihrer Möglichkeiten arbeiten. Wir behandeln jeden, ganz unabhängig vom Impfstatus. Und wir behandeln alle gleich – mit vollem Einsatz.

Mit welchem Gefühl gehen Sie in den Feierabend?

Erschöpft. Wir gehen erschöpft nach Hause mit dem Gefühl, du müsstest noch dableiben, um die Kolleginnen und Kollegen weiter zu unterstützen. Wir machen nicht die Spindtür zu und plötzlich sind die Patienten weg. Sie begleiten uns oft bis nach Hause. Man kann nur schwer abschalten, hat zum Teil Angst, die Erkrankung mit heim zu nehmen – trotz Vollschutz und Impfung.

Wie lange ist das denn noch durchzuhalten?

Das würde ich gerne mit einer Gegenfrage beantworten: Wir sind erschöpft, wir sind müde. Aber wer soll die Patienten versorgen, wenn nicht wir?

Es heißt, die Kapazitäten seien über Jahre hinweg heruntergefahren worden, ganze Stationen stünden leer und der Mangel im Gesundheitswesen und auf den Intensivstationen im Speziellen werde künstlich vergrößert. Was sagen Sie zu solchen Aussagen?

Es ist richtig, dass wir seit Jahren einen Mangel an hoch qualifiziertem Pflegepersonal haben. Bundesweit. Es ist richtig, dass wir einen Mangel an Ärzten haben, bundesweit. Der Mangel entsteht nicht, weil er künstlich gepusht ist, auch nicht wirklich aus finanziellen Aspekten, sondern weil es seit Jahren nicht genügend Fachkräfte gibt und die demografische Entwicklung in der Krankenhauslandschaft über Jahre hinweg wenig Einfluss auf die deutsche Gesundheitspolitik hatte. Das System ist einfach nicht auf Pandemie ausgelegt. Es ist relativ genau auf Kante genäht.

Stationen, die jetzt leer stehen, sind nicht kaputtgespart worden. Sie wurden vorübergehend geschlossen, weil das die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Pflege und zum Teil auch Ärztinnen und Ärzte bei der Versorgung auf Corona Normal- und Intensivstation unterstützt.

Speziell im intensivmedizinischen Setting ist es bundesweit seit Beginn von Corona zu einer Verschärfung der Pflegesituation gekommen, weil die Belastung gerade durch die Pandemie enorm ist und der Erschöpfungsgrad hoch. Viele Intensivpflegekräfte sehen den Jobwechsel oder Teilzeit als einzige Exit-Strategie, um ihre Gesundheit nicht zu ruinieren. Klatschen vom Balkon und eine einmalige Corona-Prämie sind keine hohen Motivationsfaktoren für den extrem anstrengenden und belastenden Job im Dreischicht-System.

Fehlt also vor allem das qualifizierte Personal?

Ja, aber nicht erst seit Corona. Es ist ein strukturelles Problem in ganz Deutschland. Die Kopfprämien für gut ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege und Intensivpflege schießen bundesweit in die Höhe. Auch, um Ehemalige wieder in die Kliniken zu locken. Selbst 4000 Euro Anlockprämie bewegen da wenige.

Wie sterben Corona-Patienten?

Einsam. Viel zu einsam. Und auch das macht uns traurig.

Was sagen Sie jenen, die aus unterschiedlichen Gründen einer Impfung gegenüber skeptisch sind oder diese konsequent ablehnen?

Als Mediziner muss ich sagen: Nur eine extrem hohe Impfquote wird in Zukunft die Überlastung des Gesundheitssystems vermeiden können. Sie ist zurzeit unser einziges Mittel. Die Wissenschaft, die Datenlage zu den Impfstoffen zeigt uns, dass sie funktionieren. Ihre Nebenwirkungen sind gemessen am Nutzen überaus gering. Sie vermeiden in hohem Prozentsatz einen schlimmen Krankheitsverlauf und sind sicher. Verglichen mit einer Covid-Infektion, abwägend, ist das Verhältnis zwischen Nutzen und Risiko einer Impfung eindeutig auf der Seite der Impfung.

Ich sehe aber auch, dass wir mit Sach-Argumenten nur die wenigsten überzeugen können. Die würde ich gerne mal eine Schicht auf meine Station einladen. Ich denke, das wäre für die allermeisten eine höchst einprägsame Erfahrung.

Würde eine Impfpflicht etwas bringen?

Einfach beantwortet: Ja, sie würde für uns im Gesundheitswesen etwas bringen, weil die Belastung mittelfristig sinken würde. Stichwort fünfte Welle. Sie wäre aus meiner Sicht auch sinnvoll, aber ich habe Angst vor einer weiteren Spaltung unserer Gesellschaft und der Entstehung von Hardliner-Randgruppen. Nur wir gemeinsam als Gesellschaft können diese Krise bewältigen. Wir müssen wieder zusammenfinden, statt uns immer weiter auseinanderzudividieren. Ich bin aber auch dafür, dass wir dieses Thema nicht allein auf dem Rücken der Pflegekräfte in den Kliniken austragen.

Vor Jahresfrist wurde den Pflegekräften applaudiert, und jüngst hat man Ihnen persönlich mit einer Pizza eine Freude bereitet. Welchen Wert haben solcheGesten für Sie und Ihre Leute?

Ganz ehrlich: Wir haben uns über den Applaus und die Banner gefreut. Wir waren auch etwas peinlich berührt, weil wir unseren Job ja gerne machen. Wir wollen ja jedem helfen. Die Pizza, die Sie ansprechen, war übrigens von einer anderen Station im Klinikum geschickt, auch ein bisschen als Gruß an diejenigen aus ihrem Team, die auf der Intensivstation aushelfen. Das macht das Miteinander in unserem Klinikum aus und ist ganz großartig. Solche Gesten sind toll, sie motivieren für den Moment und lassen so manche harte Schicht ein Stück leichter werden.

Was möchten Sie den Südthüringerinnen und Südthüringern in diesem Advent im zweiten Jahr der Pandemie mit auf den Weg geben?

Ich möchte meinem Team danken und allen aus unserem Klinikum, die mithelfen, die Patienten zu versorgen. Aber ich danke auch allen Menschen da draußen, die verantwortungsvoll sind, die sich haben impfen lassen und die Kontakte vermeiden, sich an die Regeln halten und die vielleicht auch die Diskussion nicht scheuen. Lassen Sie uns gemeinsam diese Krise bewältigen, lassen Sie sich impfen und denken Sie an den Booster.

An all die, die die eine andere Meinung dazu haben: Lassen Sie uns bitte in Ruhe unseren Job machen.

Interview: Holger Schalling

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