Im Anschluss an die Gesprächsrunde gingen die Experten noch auf viele Fragen aus dem Publikum ein. So zum Beispiel wollte eine Zuhörerin wissen, wer nach Putin in Russland die Oberhand bekommen könnte. „Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht. Diktaturen sind wie eine Blackbox“, sagte Davies spontan. Es sei zu befürchten, dass „Putin die Opposition so geschwächt oder vertrieben hat, dass ein Neuanfang derzeit nicht zu erkennen ist“.
Zuvor hatten die Referentinnen und der Moderator die rund 120 Gäste mit auf eine Reise in die wechselvolle Vergangenheit ukrainischer Staatlichkeit genommen. Der Aufstand der Kosaken 1648 gegen die polnische Adelsrepublik gilt als Stunde der ersten ukrainischen Nationalbewegung. „Der Kosakenmythos“, so Davies, „ist bis heute in der Ukraine lebendig.“ Kompakt und kompetent waren der weitere Überblick und die Aufklärung über das Wachsen der Ukraine bis in die Gegenwart, Leiden und Leben unter dem Joch des Habsburger- oder des Zarenimperiums, die wechselvolle Verknüpfung mit dem russischen und sowjetischen Reich sowie den Weg zur Demokratisierung inklusive Orangene Revolution und Majdan-Proteste Anfang der 2000er bzw. 2010er Jahre. Auch für das rücksichtslose Vorgehen von Putin finden sich Anhaltspunkte in der Historie. Seine Politik fuße auf der imperialistischen Ideologie, die dem Zarenreich entsprungen ist. Bereits damals habe man per Dekret festgehalten, einen ukrainischen Staat, eine ukrainische Sprache gibt es nicht und beides darf es auch nicht geben. Diese historische Mission sei für Putin Auftrag.
„Point Alpha ist ein idealer Ort, der vielfältige Anknüpfungspunkte für das Thema bietet und der geradezu nach einer solchen Diskussion verlangt“, hatte LZT-Leiter Franz-Josef Schlichtung zur Begrüßung festgestellt. Der Überfall auf die Ukraine sei völkerrechtswidrig, trage einen genozidalen Charakter und richte sich auch gegen den Westen und die europäische Friedensordnung. Europa sei in das Geschehen involviert, ob man wolle oder nicht. Es gebe in diesem Konflikt auch keine Neutralität, das wäre eine Art von unterlassener Hilfeleistung. Alexander Jehn, Direktor der HLZ, betonte: „Es geht um uns, um Solidarität und wie wir unser Haus Europa sehen. Wir werden einen längeren Atem brauchen, aber es ist nicht nur über die Frage nachzudenken, ob es in unseren Wohnungen 18 oder 19 Grad warm ist. Denn, was heute die Ukraine ist, kann morgen Transnistrien oder das Baltikum sein.“
Die Expertinnen
Gabriele Woidelko ist Leiterin für den Bereich Geschichte und Politik der Körber-Stiftung. Einer ihrer Arbeitsschwerpunkt ist das Thema „Russland in Europa“. Im Körber History Forum widmet sie sich den Auswirkungen der Vergangenheit auf die Politik der Gegenwart auf europäischer und globaler Ebene. Woidelko studierte Osteuropäische Geschichte, Slawistik und Turkologie und war anschließend als Dozentin an der Universität Hamburg tätig.
Dr. Franziska Davies lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität München Osteuropäische Geschichte. Zu ihren Forschungs- und Publikationsschwerpunkten zählt die moderne Geschichte Russlands, Polens und der Ukraine. Sie und ihre Mitautorin wurden kürzlich mit dem Bayerischen Buchpreis 2022 in der Kategorie Sachbuch für das Buch „Offene Wunden Osteuropas“ ausgezeichnet. Davies erforscht derzeit das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Deutschland, der Ukraine und Russland in Geschichte und Gegenwart. Die Resultate werden in ihrem Buch „Die Ukraine in Europa“, das im Frühjahr 2023 erscheinen soll, nachzulesen sein.