Heute öffnet die "documenta 14" für 100 Tage in Kassel. Sie will das Weltforum für moderne, zeitgenössische Kunst sein. Der künstlerische Leiter der "d14", Adam Szymczyk, setzte sich mit seiner Idee durch, neben der nordhessischen Provinzstadt Kassel die griechische Hauptstadt Athen als zweiten Ausstellungsort zu etablieren. Wie viele Besucher werden den Weg nach Athen und Kassel finden, um die ganze d14 zu erleben? In Athen ist das noch bis 16. Juli möglich, von Deutschland aus eine Reise über rund 3 000 km.

Ankommen in Kassel am Friedrichsplatz im Stadtzentrum. Dort steht im öffentlichen Raum die erste künstlerische Arbeit der "d14", der geistige und materielle Brückenschlag zwischen beiden "documenta"-Städten - "Der Parthenon der Bücher". Vorbild ist der Tempel auf der Akropolis, der ästhetisch und politisch das Ideal der ersten Demokratie repräsentiert. Die argentinische Künstlerin Marta Minujin hat Tausende von Büchern mit verbotenen Texten und von verfolgten Autoren in die "Säulen" platziert. Sie will ein Zeichen setzen und das Werk in Kassel vollenden. Sie braucht noch mehr Bücher von Bürgern, Verlagen, Autoren. Der Friedrichsplatz ist historisch kontaminiert. Im Fridericianum verbrannten 1941, damals eine Bibliothek, nach einem alliierten Bombenangriff 350 000 Bände. Der "Hingucker", der Parthenon, animiert so zum Nachdenken.

Ästhetisches vergnügen

Längst nicht alle zeitgenössischen Künstler und modernen Kunstwerke lassen sich so decodieren von Besuchern. Das soll auch nicht sein, das war noch nie so. Die "documenta" war schon immer eine Zumutung, Überforderung, Irritation für Besucher. Sie strengt an, bereitet oft weniger ästhetisches und emotionales Vergnügen als etwa eine Ausstellung mit Bildern der Klassischen Moderne wie gerade im Museum Barberini in Potsdam gesehen. Wer nach Kassel kommt, sollte vorbereitet sein. Vor allem, welche der über 30 Orte in der Stadt sollen angesteuert werden? Wie lange spielen die Sinne bei der permanenten Reizüberflutung mit? Eine physische Anstrengung ist so ein "documenta"-Tag mit sechs oder mehr Stunden allemal.

Der künstlerische Leiter der "d14", Adam Szymczyk, empfiehlt als Einstieg in den Ausstellungsparcour den Abstieg in den ehemaligen unterirdischen Bahnhof am Kultur-Bahnhof. Der stillgelegte Tunnel empfängt uns im Obergeschoss mit mehreren Videoinstallationen. Gleich mal acht Stunden über das "falsche Lernen" in Südafrika. Bildung und sozialer Aufstieg ist ein Mega-Thema weltweit. Hier verstört es nur. Aus Michael Auders 14 Bildschirmen eine Treppe tiefer ergießt sich eine Bilderflut: Trump, Naturkatastrophen, stinknormale Alltagsszenen, Kunstwerke. Schnell weiter zum Licht am Ende des Tunnels. Raus aus diesem Transitraum moderner Kunst.

Die Neue "Neue Galerie", kein Schreibfehler, befindet sich in der Neuen Hauptpost, Eingang über den rückwärtigen Gebäudetrakt. Bei der Preview in Kassel sind viele sauer, weil sie einmal um das weitläufige Häuserareal laufen müssen. Aber dann: Wow! Ein großes Wandbild von Gordon Hookey erzählt die Lebensrealität der Aborigines in Australien. Eine Art Comic in Wort und Bild, verdrehte Worte und starke Farbkontraste. Kaum 50 Schritte weiter ein Thriller, ein Schock, ein "Vorhang" mit Hunderten von Rentierschädeln. Máret Ánne Sara inszeniert und dokumentiert die unglaubliche Geschichte, wie im Jahr 2007 Rentiere per Gesetz in Norwegen gekeult wurden und sie dagegen klagte. Die Gemeinschaft der Sámi kämpft gegen die "Norwegisierung" ihrer Kultur. Dieser Ausstellungsort hinterlässt insgesamt ganz starke Impulse und Eindrücke, weil scharfe politische, soziale, ökonomische Fragen von Künstlern gestellt werden.

Kurzer Blick in die Gottschalk-Halle im Universitätsviertel im Norden von Kassel. Wieder Videos, es geht um Wohnen, Leben, Arbeiten, Reflektieren aktueller Technologie-Entwicklungen, der virtuellen und der physischen Welten. Menschen erzählen, unterlegt mit Bildern, untertitelt in Deutsch. Die Arbeits- und Künstlersprache der documenta ist Englisch. Zurück ins Stadtzentrum, doch halt. Am Eingang einer Unterführung an einer großen Kreuzung steht "Herzlich willkommen im Raum für urbane Experimente". Keine documenta-Idee, aber einige hundert Meter Wände voll mit Graffitis ganz unterschiedlicher Handschriften. Was für eine Kraft davon ausgeht.

Es rauscht und tönt

Im Fridericianum ist erstmals in Deutschland die Sammlung des Athener Nationalen Museums für zeitgenössische Kunst zu sehen. So kann das ausgeräumte Ausstellungshaus in Athen zur zentralen Spielstätte der "d14" werden. Künstlerisch überzeugt die in Kassel präsentierte Sammlung nur in einzelnen Teilen. Berührend die Installationen zu Flucht und Verfolgung in Griechenland. Da assoziiert der deutsche Besucher eigene jüngere Geschichte. In der "documenta"-Halle, zweiter Hauptausstellungsort in Kassel, rauscht und tönt und klingt es nur so. Kreative Sound-Installationen und das Besuchergrundrauschen vermischen sich. Eine ganz stille Arbeit berührt nachhaltig. Die Schwedin Britta Marakatt-Labba stickt, druckt und appliziert auf Leinen 23,5 Meter lang und 39 Zentimeter hoch eine "Prozession der Rentiere". Was für ein Panorama von Tieren, Menschen und Natur.

Die "d14" in Kassel bietet noch viel mehr an moderner Kunst. Ein Tag reicht nicht aus. Eine nützliche Orientierungshilfe ist das "Kassel Map Booklet" für 2,50 Euro mit knappen Informationen zu allen Ausstellungsorten, Künstlern und Kunstwerken. Zwei Tage in Kassel sollten es schon sein für die eine Hälfte der "d14".

Die Kunstausstellung "documenta 14" in Kassel ist bis 17. September täglich 10-20 Uhr geöffnet;

www.documenta.de