Ganz gleich, was in den nächsten Tagen bei der 70. Berlinale noch passieren wird - beim Eröffnungsfilm hat der neue künstlerische Leiter des Festivals, Carlo Chatrian, auf jeden Fall ein glückliches Händchen bewiesen. "My Salinger Year" ist ein Film, der alles hat, um schwungvoll in den Filmmarathon von Berlin zu starten: Eine gute Geschichte und starke Figuren, viel Optimismus und einen Hauch Melancholie. Was will man mehr?

Basierend auf den autobiografischen Erinnerungen der US-Autorin Joanna Rakoff erzählt Regisseur Philippe Falardeau von einer jungen Frau, die Mitte der 1990er-Jahre nach New York zieht, um Schriftstellerin zu werden. Um sich in der Metropole über Wasser zu halten, nimmt sie einen Job in einer der ältesten Literaturagenturen der Stadt mit ihrer altmodischen Chefin Margaret an. Joanna weiß zunächst nicht, dass zu den Klienten unter anderem J.D. Salinger gehört - der Kultautor von "Der Fänger im Roggen" aus dem Jahr 1951, der nach diesem Welterfolg nie wieder einen Roman veröffentlichte und in völliger Abgeschiedenheit in New Hampshire lebte. Eine der Aufgaben Joannas in der Agentur wird sein, die Fanpost an Salinger mit seriellen Formbriefen zu beantworten und anschließend zu schreddern.

Schritt um Schritt kommt Joanna in der Großstadt und an ihrem eigenwillig altertümlichen Arbeitsplatz an. Allmählich verdient sie sich die Anerkennung ihrer Kollegen und der Chefin und sie plaudert sogar angeregt mit Salinger, wenn dieser in der Agentur anruft und die Inhaberin verlangt. Nebenher verlässt sie ihren Freund, den sie an der Westküste zurückgelassen hat, und lässt sich auf eine neue Romanze mit einem sozialistischen Weltverbesserer ein, der an seinem ersten Roman schreibt.

Ziele nicht aufgeben

Mehr und mehr aber gären in Joanna die Zweifel: Ist es das, was sie wirklich will? Ist sie nach New York gekommen, um die Agentin von alten und neuen Autoren zu werden? Oder wollte sie nicht doch selbst schreiben? Behutsam schildert Falardeau die Selbstfindung einer jungen Frau, die ihre Ziele am Ende nicht aufgibt.

Als Joanna nach New York kommt, ist der Traum vom Leben als freie Schriftstellerin nicht viel mehr als eine schwärmerische Fantasie. Doch je mehr sie in der großen Stadt Fuß fasst und Schritt um Schritt selbstbewusster wird, desto drängender wird ihr bewusst, dass sie ihren Traum nur selbst mit Leben erfüllen kann.

Nicht unwesentlich tragen dazu die flammenden Fanbriefe an Salinger bei, in denen begeisterte Leser schreiben, wie sehr das Buch sie inspiriert und ihr Leben verändert hat. Und auch die kurzen Telefonate mit Salinger sind Ansporn für Joanna: Denn das große Phantom der amerikanischen Literatur ermuntert sie immer wieder, das Schreiben nicht aus den Augen zu verlieren.

"My Salinger Year" ist eine berührende Geschichte vom Erwachsenwerden, angesiedelt in einer merkwürdig aus der Zeit gefallenen Literaturagentur, deren Chefin Computer als Hexenwerk und E-Mails als Fluch der Moderne ansieht. In diesem anachronistischen Paralleluniversum, in dem die betreuten Autoren zuallererst als Menschen und nicht als Renditebringer gesehen werden, gelingt es Joanna mit Beharrlichkeit und Mut, sich das Vertrauen ihrer verschrobenen Chefin zu erarbeiten.

Sigourney Weaver glänzt in dieser wunderbaren Altersrolle als eine Frau des Wortes, die sich trotzig gegen den neumodischen Schnickschnack stemmt. Vor allem aber wird der Film getragen von der jungen amerikanischen Schauspielerin Margaret Qualley, die bislang eher in kleineren Rollen besetzt wurde, mit diesem Film aber gewiss einen gehörigen Karriereschub erhalten wird.

Ehre für große Lady

Die Berlinale ist also überaus gelungen in ihre Jubiläumsausgabe gestartet. In den kommenden zehn Tagen werden sich Kinofreunde aus der Hauptstadt und Cineasten aus aller Welt rund um den Potsdamer Platz in insgesamt mehr als 350 Filme vertiefen. 18 davon konkurrieren im Wettbewerb um den Goldenen und die Silbernen Bären, 15 bewerben sich in der neu geschaffenen Sektion "Encounters" um Preise für Filme, die "Mut und Suche nach einer neuen Sprache" auszeichnen.

Mitte der nächsten Woche wird dann eine große Lady des britischen Kinos geehrt: Helen Mirren erhält den Ehrenbären der Berlinale, eine Auswahl ihrer besten Filme wird zugleich in der Hommage gezeigt. Die diesjährige Retrospektive ist schließlich dem amerikanischen Regisseur, Produzenten und Drehbuchautor King Vidor (1894-1982) gewidmet, der zwischen 1919 und 1959 mehr als 50 Spielfilme drehte und das amerikanische Kino über Jahrzehnte immer wieder entscheidend mitprägte.