Als "glücklich und vergnügt" schildert Friedrich Schiller am 8. Dezember 1782 seine Gemütslage einem Jugendfreund. Gerade ist er in Bauerbach eingetroffen. Vielleicht fegte ein Schneesturm über das Tal, vielleicht machte der Frost den Boden hart, vielleicht fiel aber auch Wintermorgen-Sonne durch die Fenster des Wolzogenschen Hauses. Ein reichliches halbes Jahr wird er dem Ort seine Anwesenheit schenken, der - neben Einsamkeit - Zeit für "Kabale", Zeit für den "Karlos" und auch eine unglückliche Liebe für ihn bereit hält. Dann ist der Doktor Ritter wieder weg - aber Bauerbach kann und will sich bis heute seines berühmt gewordenen Einwohners auf Zeit und der Tradition nicht entledigen.

Der Stolz des Ortes

Vor 60 Jahren hat man das "Naturtheater in den Hang gegraben. Hat einen Platz planiert für Zuschauerbänke, eine Bühne errichtet, Scheinwerfer-Türme betoniert. Steine gemauert. Die hohle Gasse, die sich aus dem finstren Wald ans Licht bricht, die gab es wohl von Anfang an. Mittlerweile sind die Bäume rundherum groß geworden. Und alt. Mittlerweile ist das Theater ein lauschiges, ein schattiges Plätzchen, ein kleines Paradies. Sie haben es herausgeputzt, zum Jubiläum. Mit Mann und Maus. Alles, wirklich alles glänzt.

Stolz sind sie, gewiss. Unten, im Ort, haben sie grüne Wimpelketten über die Straßen und an Gartenzäune gespannt: "NTB" ist auf jedem der vielen Wimpel zu lesen, "Natur-Theater Bauerbach". Als würde er auf einem Sockel stehen, erhebt sich die Silhouette des Dichters über dem großen "T". Oben, am Theater, weisen die Älteren den Parkplatz ein, bauen die Technik auf, rücken Tische und Bänke, verkaufen Bratwürste, Eis und Limo. Und die Jüngste, wohl keine vier Jahre alt, sitzt mit am Tisch, wo es die Fan-Artikel gibt: Regenschirme, Zollstöcke, Kaffeebecher gehen durch die kleinen Hände. Noch eher der Besucher bei Schiller zu Gast ist, ist er es bei den Bauerbachern. Und diese Gastfreundschaft scheint so liebevoll wie nirgendwo sonst weit und breit.

Ein ganzes Dorf spielt Schiller. Das stimmt natürlich nicht wirklich. Kaum zwei Hände voll Darsteller werden an diesem Abend auf der Bühne stehen. Aber gefühlt alle Bauerbacher sind irgendwie mit dabei. "Schillers Löckchen" bringt man in zur Premiere. Das Jubiläums-Stück - eine Revue. Schon schreitet er aus dem Wald, der Herr Schiller (Thomas Voigt), steigt auf das Podium, das man ihm errichtet hat: Respekt, meine Damen und Herren! - Ach was! Die Bauerbacher entstauben erst einmal seine Robe. Gaby (Jessica Meier) wedelt an Nase und Perücke. Und schließlich schleifen sie ihn ganz einfach vom Platz.

Die Putzaktion darf man wortwörtlich nehmen: Weg mit der Tradition. Der szenische Ritt durch Schillers Werkverzeichnis im Stil einer Nummern-Revue hat wenig mit den Texten zu tun, dafür umso mehr mit dem Spiel. "Diese Bauerbacher, an meinen ‚Räubern‘ wollen sie sich versuchen!", grummelt der rastlos wandelnde Schiller aus dem Wald. Es fehlt ihm an den rechten Textzeilen und den rechten Requisiten, an Pünktlichkeit des künstlerischen Personals und überhaupt an seiner Ernsthaftigkeit. Jeanslatzhose und Räuberkutte - wo gibt es denn so was? Bei einem Stück "nach Bauerbacher Art" muss das so sein. Perfekt darf und soll das Spiel nicht sein an diesem Abend. Die Botschaft: Hier gehorchen die Verse nicht dem Geist, sondern den Herzen. "Der Spaß an diesem Abend lässt vieles verzeihen", befindet der Herr Schiller sodann. Und genau so wollen sie ihr Spiel verstanden wissen.

Schiller gekürzt gerappt

Und also spielen sie die "Räuber" in drei Akten, zitieren aus der "Glocke" und dem "Fiesco", verwandeln den Bühnen-Parcours in eine Rennstrecke und einen Tanzboden, bringen "Kabale und Liebe" in einem Satz, kürzen die über 6 000 Verse des "Don Karlos" auf 42 zusammen, Rappen ziemlich cool zur Musik der "Fantastischen Vier" und zu Udo Lindenbergs "Andrea Doria". Jeanne d’Arc reckt das Schwert stolz in den Bauerbacher Abendhimmel. Die "Braut von Messina" kommt als Trauerspiel mit Chören. Und dann natürlich der Tell. "So einen bräuchte man heute beim Südlink", ätzt es aus dem Schauspiel-Truppe, die Friederike Schiller (Sarina Schielke), die "Mutter vom Ganzen", irgendwie zusammenhält. "Wir sind das Volk", skandieren die wackeren Schweizer, denen ein Österreicher Bescheid sagen will: "Wer bischt du denn?", fragt Tell. "Ja Servus, der Gessler aus Wien". Das hat Witz, und das hat den richtigen Drive für diesen Sommerabend.

Und so wabert der Geist Friedrich Schillers durch die Nacht. Seine Gedanken, in Fetzen nur, und aber doch seine Gedanken. Rechts oben im Bühnenbild hängt Schillers Porträt. Unter ihm haben sie eine Theatervereinssitzung gespielt. Die Intro zum Stück, in dem die Idee geboren wurde, sich die Freiheit zu nehmen, den Schiller eben anders zu spielen, und zwar ganz anders. Doch, doch - es wird ordentlich gestorben auf der Bühne. Immerfort spießt ein Schwert oder Dolch jemanden auf. Das ist das Dramatische. Und dann ist da noch die Liebe. Die steht nicht in den Texten, die sieht man nicht auf der Bühne. Aber sie ist da. Wer auf einer der Bänke sitzt, auf die man vorsorglich Sitzkissen verteilt hat, und wer sieht, wie sich hier das halbe Dorf einen Abend lang müht, wie es kämpft und spielt, wie es lacht, wie es versucht, den Versen Ausdruck zu verleihen, wer in den Gesichtern der Bauerbacher liest, der spürt plötzlich deren Respekt vor "ihrem" Schiller.

Und ja, so etwas muss einfach Liebe sein.

Nächste Vorstellungen: 3./10./11./17.8., www.naturtheater-bauerbach.de