Anders als beim Original der Friedensfahrt, wo neben den Nationentrikots auch gelbe, weiße, grüne, blaue, violette oder rot-gepunktete Jerseys aus der Masse hervorstachen, verschwimmen all diese Farben zur Neuauflage am ersten September-Wochenende 2022 zu einem leuchtend orangen Fahrerfeld. „Das Peloton fädelt sich wie eine Perlenkette durch die malerisch schöne Landschaft und wird begleitet von gefühlt 1000 Helfern, Polizei- und Motorrad-Eskorten, von Krankenwagen und Begleitfahrzeugen. Alles ist bestens organisiert, jede Kreuzung und Ortsdurchfahrt wird abgesichert. Alle sind diszipliniert – ein einziges Miteinander“, beschreibt Wiedemann diesen wohl bekannten Friedensfahrt-Spirit. Mit einem Unterschied zu damals: „Leistungsschwächere werden kurzerhand ein bisschen am Berg mitgeschoben – eben wie in einer Familie …“ Und selbst Zeit für ein kurzes Pläuschchen bleibt – mitten im Rennen versteht sich. „Ja, das stimmt“, bestätigt der Sonneberger, der sich mit vielen Teilnehmern austauscht, während der Fahrt, meist auf Deutsch oder Englisch.
Den Mythos Friedensfahrt verinnerlicht
Gerade während der ersten Etappe entstehen dabei einige neue Bekannt- und Freundschaften – auf gut 230 Rennrad-Kilometern, durch wunderschöne Landschaften. „Da wir größtenteils auf Nebenstraßen unterwegs sind, habe ich lediglich ab und zu mit den doch etwas schlechten Straßen zu kämpfen“, erinnert sich Wiedemann, der neben der Euphorie für das Großereignis permanent von seinem Handicap ermahnt wird. „Da ich vorher nicht wusste, wie die Fahrbahnbeschaffenheit ist, habe ich zur Vorsicht meinen linken, den gelähmten Arm mit einem Klettband am Lenker fixiert“, verrät der Paracycler und ergänzt: „Zu groß ist die Angst, dass der Arm den Kontakt zum Lenker verlieren könnte.“
Auch die zweite Etappe, die Schlussetappe, führt den Tross durchs Gebirge, durchs Erzgebirge. „An den Anstiegen pusht uns die Musik aus den Betreuerfahrzeugen nach oben“, bemerkt auch Wiedemann den kleinen, aber feinen Unterschied zur echten Friedensfahrt. Doch spätestens zur Ankunft in Chemnitz ist dieser längst verschwommen. Unzählig viele Menschen, ja Tausende stehen an den Straßen und „empfangen uns mit tosendem Jubel. Wildfremde Menschen liegen sich in den Armen, sie weinen. Das ist unbeschreiblich“, schildert Jan Wiedemann den Zieleinlauf, drückt behutsam auf die Bremse, schüttelt den Kopf immer wieder und nuschelt: „Danke! Danke! Vielen Dank!“ Ja, er sei in diesem Moment wirklich dankbar gewesen. Dankbar dafür, dass er „Teil dieser politisch wichtigen und emotionalen Tour sein durfte“. Dass er den Mythos Friedensfahrt nun endlich auch mit Haut und Haar verinnerlichen darf, dass ein Kindheitserlebnis in die Wirklichkeit transformiert wird.
Dabei stupst ihn Papa Dieter an die Schulter. „Junge, ab ins Bett. Morgen geht’s zeitig raus.“ Wie gerädert bleibt Jan auf dem braun-karierten Chaiselongue hocken. Zwei Sekunden Zögern, entnervt marschiert der Herr im Haus im Stechschritt zurück zum Fernsehschrank. Ein geübter Handgriff am beigen Drehrad des Staßfurt Stella reicht, dann macht’s „zisch“. Auf den schwarz-weißen, 59 Zentimetern Bildschirm-Glück ist nur noch ein winzig-weißer Punkt zu sehen, der mehr und mehr der schwarzen Leere weicht. Dann darf Jan zurück aus der Vergangenheit, als wasch-echter Friedensfahrer.