Größte Wertschätzung aber stellt eigentlich die Tatsache dar, dass noch heute, fast zwei Jahrhunderte später, (nicht nur) Müller-Uris Nachfahren in seine Fußstapfen treten, selbst Augen fertigen und damit vielen Menschen auf der ganzen Welt das Leben erleichtern. Betroffene sind keineswegs nur Opfer von Kriegshandlungen, die dadurch ein Auge verloren haben. Im Laufe der Zeit kamen auch immer mehr Varianten und Fälle von Augenkrankheiten hinzu, die zum Bedarf einer Augenprothese führten und führen. Natürlich kann ein solches Glasauge nicht die Sehkraft ersetzen, aber, vom Experten gefertigt, stellt es die Symmetrie des Gesichts wieder her. Das daraus folgende angenehme Aussehen verhindert meist eine Ausgrenzung in der Gesellschaft, stärkt das Selbstvertrauen der Betroffenen. Die Augenmacher selbst sagen: „Ocularisten schaffen zwar kein neues Augenlicht - dafür aber ein großes Stück Lebensqualität.“
Einer der direkten Nachfahren von Ludwig Müller-Uri ist Andreas Müller-Uri, Jahrgang 1950, Augenmacher im Ruhestand, wohnhaft in Neuhaus am Rennweg. Der Erfinder Ludwig war sein Ururgroßvater. Dessen Erstgeborener, Reinhold, hatte wiederum zwei Söhne, Hugo und Felix. Und Felix‘ Sohn Herbert war schließlich der Vater von Andreas, so nachzulesen im gut gehüteten Familienstammbaum der Müller-Uris.
Im Mai 1971 sei er in die Augenprothetik eingestiegen, erzählt Andreas. Zunächst hatte er an der Glasfachschule in Lauscha die Grundlagen der Glasbearbeitung erlernt. Nach der Pflichtzeit bei der Armee hat er die Ausbildung fortgesetzt und in Berlin als Augenmacher gearbeitet. Ab 1987 zählte er zu den Auslandsreisekadern, durfte etwa in Dänemark und Polen Patienten ihre Augen anpassen. Vorrangig aber habe man die Versorgung mit Augenprothesen in der DDR abgesichert, so Müller-Uri. Im Laufe der Entwicklung der Glasindustrie und der entsprechenden Betriebe im Ort waren die Augenmacher zunächst dem VEB Glaswerke Lauscha zugeordnet, später dem VEB Glaskunst. Noch bis 1989 gab es einen detaillierten Plan, wann wo Sprechtage für Augenprothesenträger durchgeführt wurden. Die entsprechenden Orte reichten von Karl-Marx-Stadt, Görlitz oder Frankfurt/Oder bis Weimar, Jena und Gera, von Stralsund und Schwerin bis Zwickau.
1990, nach der Wende, gab es für die Lauschaer Hersteller gerade einmal 60 Prozent des Lohnes, den andere Augenmacher für die gleiche Arbeit „im Westen“ erhielten. Die Firma „Augenprothetik Lauscha GmbH“ haben Andreas und seine Kollegen damals gegründet und aufgebaut. 25 Jahre lang hat er hier „mit guten Leuten gute Augen hergestellt“, unter anderem auch für Patienten in Kroatien, Dänemark und Polen. 2015 hat er sich in den Ruhestand verabschiedet. Doch die Entwicklung der Branche verfolgt er weiter mit großem Interesse. Etwa die aufkommende Konkurrenz von Augenprothesen aus Plaste, die aber nachweislich schlechtere Gebrauchseigenschaften aufweisen und in kürzeren Abständen ersetzt werden müssen. Mit berechtigtem Stolz bewahrt der Ururenkel des Erfinders zudem historische Dokumente auf, die von der Bedeutung der neuen Errungenschaft für die Menschheit zu Zeiten seines berühmten Vorfahren künden.
Andreas‘ Sohn Thomas ist ebenfalls in die Fußstapfen der Vorfahren getreten, hat zunächst in Lauscha gelernt und ist schließlich „zur Konkurrenz“ nach Wiesbaden gewechselt. Die dortige Firma, F. AD. Müller Söhne, wurde in den 1870er Jahren vom oben erwähnten Friedrich Adolf, einem Neffen des Erfinders Ludwig Müller-Uri, gegründet. Heute besuchen ihre Mitarbeiter regelmäßig mehr als 63 verschiedene Städte in acht europäischen Ländern, um den Patienten die Augenprothesen direkt anzupassen und bieten ganzjährig feste Sprechzeiten in Deutschland, den Niederlanden und Schweden an. Die Wiesbadener sind ein Beispiel von vielen – eine Firma, gegründet von Nachfahren des Müller-Uri, die heute noch nach dem gleichen Grundprinzip, mit Material aus der Lauschaer Farbglashütte, Menschen mit der Erfindung von 1835 helfen.
Ob Paul, der elfjährige Sohn von Thomas, dereinst ebenfalls in die Fußstapfen seiner Vorfahren treten wird, lässt sich jetzt natürlich noch nicht sagen. Er wäre dann immerhin die siebente Generation von Augenmachern in Folge seit Ludwig Müller-Uri.