Erfindung aus Thüringen Glasaugen für die Welt

Doris Hein

Das künstliche Auge aus Glas als Teil der Augenheilkunde, so wie es heute weltweit eingesetzt wird, hat seinen Ursprung in Lauscha.

 
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Lauscha - „Geboren in einer Lauschaer Glasmacherfamilie war er Zeit seines Lebens in besonders kreativer Weise mit dem Werkstoff Glas verbunden.“ So steht es nachzulesen an der Ehrentafel für Ludwig Müller-Uri am Ehrenportal an der Goetheschule der Glasbläserstadt. Dessen Familie betrieb seit 1607 in Schmalenbuche, heute ein Ortsteil von Neuhaus am Rennweg, eine Glashütte. Ludwigs Bruder, Georg Friedrich, war nicht nur Glasmacher, sondern auch Schultheiß. Ludwig selbst arbeitete nach dem Besuch der Dorfschule ein Jahr lang als Glasmacher in der Tafelglashütte Marienthal in Hohenofen. Danach stellte er in der väterlichen Werkstatt gläserne Tier- und Puppenaugen her. Sein weiteres Lebenswerk ist auf der Ehrentafel in einem Satz zusammengefasst: „Der Kontakt mit dem Würzburger Arzt Professor Dr. Heinrich Adelmann und die Entwicklung des Kryolithglases in der Lauschaer Dorfglashütte sowie seine große handwerkliche Begabung als Glasbläser ließen Ludwig Müller-Uri 1935 zum Erfinder des deutschen Kunstauges aus Glas werden.“

In diesem Jahr wäre Müller-Uri 210 Jahre alt geworden. Grund genug, den großen Sohn Lauschas und seine Erfindung, die noch heute weltweit Grundlage der modernen Augenprothetik ist, zu würdigen.

Neben der Ehrentafel am einstigen Schulgebäude schmückt eine zweite das ehemalige Wohnhaus des Erfinders in der Perthenecke. Heute wohnt hier Reinhard Müller-Blech, langjähriger Geschäftsführer der Augenprothetik Lauscha GmbH. Im Museum für Glaskunst ist Müller-Uri und seinem Werk eine Vitrine gewidmet. Dort erfährt der interessierte Besucher, dass einfache künstliche Augen aus Glas zu medizinischen Zwecken wohl schon im 16./17. Jahrhundert gefertigt wurden, etwa in Venedig, Amsterdam und Paris. Die Produkte von Müller Uri zeichneten sich im Vergleich dazu durch einen enormen Qualitätssprung aus. Sie konnten der Muskulatur des Augapfels angepasst werden, waren gut verträglich und optisch kaum von gesunden Augen zu unterscheiden.

Von wesentlicher Bedeutung für den Erfolg seiner Neuerungen war das verwendete Glas. Es sollte nicht nur eine der menschlichen Sklera, der äußeren Umhüllung des Augapfels, möglichst nahekommende Farbe aufweisen. Vielmehr war auch wichtig, dass es der Tränenabsonderung dauerhaft standhalten kann und eine geschmeidigere Verarbeitung ermöglicht. Im Ergebnis einer diesbezüglichen Zusammenarbeit von Augenkünstlern, vor allem von Friedrich Adolf Müller-Uri, mit den Glasmeistern Septimius Greiner-Kleiner, Christian Müller-Pathle und August Greiner-Wirth wurde das sogenannte Kryolithglas erfunden, das bis heute in Lauscha speziell für die Ocularisten hergestellt und von diesen für die Augenherstellung verwendet wird.

Die Methode der Herstellung wurde im Laufe der Jahre von Müller-Uris Nachfahren ebenso wie von ihm selbst wiederholt verbessert und vervollkommnet. Das Grundprinzip der Prothesenherstellung ist aber auch nach fast 200 Jahren noch dasselbe. Verschiedene Muster, vom Rohling bis zum fertigen Schalenauge, zeigen in der Vitrine im Museum für Glaskunst die Arbeitsschritte zur Entstehung eines solchen Glasauges. Auf dem Köpplein wurde sogar eine Straße nach Müller-Uri benannt.

Größte Wertschätzung aber stellt eigentlich die Tatsache dar, dass noch heute, fast zwei Jahrhunderte später, (nicht nur) Müller-Uris Nachfahren in seine Fußstapfen treten, selbst Augen fertigen und damit vielen Menschen auf der ganzen Welt das Leben erleichtern. Betroffene sind keineswegs nur Opfer von Kriegshandlungen, die dadurch ein Auge verloren haben. Im Laufe der Zeit kamen auch immer mehr Varianten und Fälle von Augenkrankheiten hinzu, die zum Bedarf einer Augenprothese führten und führen. Natürlich kann ein solches Glasauge nicht die Sehkraft ersetzen, aber, vom Experten gefertigt, stellt es die Symmetrie des Gesichts wieder her. Das daraus folgende angenehme Aussehen verhindert meist eine Ausgrenzung in der Gesellschaft, stärkt das Selbstvertrauen der Betroffenen. Die Augenmacher selbst sagen: „Ocularisten schaffen zwar kein neues Augenlicht - dafür aber ein großes Stück Lebensqualität.“

Einer der direkten Nachfahren von Ludwig Müller-Uri ist Andreas Müller-Uri, Jahrgang 1950, Augenmacher im Ruhestand, wohnhaft in Neuhaus am Rennweg. Der Erfinder Ludwig war sein Ururgroßvater. Dessen Erstgeborener, Reinhold, hatte wiederum zwei Söhne, Hugo und Felix. Und Felix‘ Sohn Herbert war schließlich der Vater von Andreas, so nachzulesen im gut gehüteten Familienstammbaum der Müller-Uris.

Im Mai 1971 sei er in die Augenprothetik eingestiegen, erzählt Andreas. Zunächst hatte er an der Glasfachschule in Lauscha die Grundlagen der Glasbearbeitung erlernt. Nach der Pflichtzeit bei der Armee hat er die Ausbildung fortgesetzt und in Berlin als Augenmacher gearbeitet. Ab 1987 zählte er zu den Auslandsreisekadern, durfte etwa in Dänemark und Polen Patienten ihre Augen anpassen. Vorrangig aber habe man die Versorgung mit Augenprothesen in der DDR abgesichert, so Müller-Uri. Im Laufe der Entwicklung der Glasindustrie und der entsprechenden Betriebe im Ort waren die Augenmacher zunächst dem VEB Glaswerke Lauscha zugeordnet, später dem VEB Glaskunst. Noch bis 1989 gab es einen detaillierten Plan, wann wo Sprechtage für Augenprothesenträger durchgeführt wurden. Die entsprechenden Orte reichten von Karl-Marx-Stadt, Görlitz oder Frankfurt/Oder bis Weimar, Jena und Gera, von Stralsund und Schwerin bis Zwickau.

1990, nach der Wende, gab es für die Lauschaer Hersteller gerade einmal 60 Prozent des Lohnes, den andere Augenmacher für die gleiche Arbeit „im Westen“ erhielten. Die Firma „Augenprothetik Lauscha GmbH“ haben Andreas und seine Kollegen damals gegründet und aufgebaut. 25 Jahre lang hat er hier „mit guten Leuten gute Augen hergestellt“, unter anderem auch für Patienten in Kroatien, Dänemark und Polen. 2015 hat er sich in den Ruhestand verabschiedet. Doch die Entwicklung der Branche verfolgt er weiter mit großem Interesse. Etwa die aufkommende Konkurrenz von Augenprothesen aus Plaste, die aber nachweislich schlechtere Gebrauchseigenschaften aufweisen und in kürzeren Abständen ersetzt werden müssen. Mit berechtigtem Stolz bewahrt der Ururenkel des Erfinders zudem historische Dokumente auf, die von der Bedeutung der neuen Errungenschaft für die Menschheit zu Zeiten seines berühmten Vorfahren künden.

Andreas‘ Sohn Thomas ist ebenfalls in die Fußstapfen der Vorfahren getreten, hat zunächst in Lauscha gelernt und ist schließlich „zur Konkurrenz“ nach Wiesbaden gewechselt. Die dortige Firma, F. AD. Müller Söhne, wurde in den 1870er Jahren vom oben erwähnten Friedrich Adolf, einem Neffen des Erfinders Ludwig Müller-Uri, gegründet. Heute besuchen ihre Mitarbeiter regelmäßig mehr als 63 verschiedene Städte in acht europäischen Ländern, um den Patienten die Augenprothesen direkt anzupassen und bieten ganzjährig feste Sprechzeiten in Deutschland, den Niederlanden und Schweden an. Die Wiesbadener sind ein Beispiel von vielen – eine Firma, gegründet von Nachfahren des Müller-Uri, die heute noch nach dem gleichen Grundprinzip, mit Material aus der Lauschaer Farbglashütte, Menschen mit der Erfindung von 1835 helfen.

Ob Paul, der elfjährige Sohn von Thomas, dereinst ebenfalls in die Fußstapfen seiner Vorfahren treten wird, lässt sich jetzt natürlich noch nicht sagen. Er wäre dann immerhin die siebente Generation von Augenmachern in Folge seit Ludwig Müller-Uri.

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