Einheitstag in Erfurt Feiern im Schatten

Drei Tage lang hat Deutschland in Thüringen die Einheit gefeiert. In den staatstragenden Teilen der Feierlichkeiten war der Ton in diesem Jahr jedoch besonders nachdenklich.

 
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Es passiert selten, dass es in einem Gottesdienst Applaus gibt. Deshalb sticht es heraus, dass die geladenen Gäste ihre Hände spontan aufeinanderschlagen, als Marion und Kurt Herzberg am Montagvormittag in Erfurt davon erzählen, dass sie bewusst an einem dritten Oktober geheiratet haben. Sie stammt aus Bayern, er aus Thüringen. Heute leben sie gemeinsam in der thüringischen Landeshauptstadt.

In all den Jahren ihrer Ehe, erzählen beide während des ökumenischen Gottesdienstes zum diesjährigen Tag der Deutschen Einheit, sei ihnen aus Ost und West viel Hilfe zuteil geworden – und auch viel Unwissenheit über das Leben diesseits und jenseits der einstigen innerdeutschen Grenze entgegengeschlagen. Trotzdem, das machen sie inmitten des Erfurter Doms stehend ganz klar, haben sie es nie bereut, ihre ganz eigene deutsch-deutsche Vereinigungsgeschichte geschrieben zu haben. Im Gegenteil. Sie wollten immer weiter daran arbeiten zusammenzuwachsen, sagen sie.

Dass nicht nur die Herzbergs genau das weiterhin tun wollen – also: zusammenwachsen –, sondern dass vor allem die deutsche Gesellschaft das in den nächsten Jahren ganz dringend und ganz intensiv tun muss, das ist eines der zentralen Leitmotive, die die diesjährigen Einheitsfeierlichen durchziehen. Denn die deutsche Einheit, formal vollzogen am 3. Oktober 1990, ist noch immer eine unvollendete.

Wahrscheinlich ist sie in den vergangen zwei, drei Jahren sogar wieder ein bisschen unvollendeter geworden. „Ob Corona-Pandemie oder Energieknappheit – die Krisen der Zeit zeigen, was vorher schon nicht gestimmt hat, und rücken die bestehenden Differenzen ins Licht der Scheinwerfer“, sagt Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) am Montagmittag während eines Festaktes im Theater Erfurt. „Auf diese Punkte müssen wir unseren Blick richten.“ Viele andere – manche mit hochoffiziellen Ämtern, manche ohne – sagen vorher oder nachher ganz Ähnliches.

Daran ändert sich auch dadurch nichts, dass die gesamtdeutschen Einheitsfeierlichkeiten in Erfurt über das verlängerte Wochenende hinweg zehntausende Menschen anziehen. Vor allem am Sonntag und Montag, als der Regen vom Samstag sich langsam zu verziehen beginnt, schlendern viele Menschen durch die Innenstadt, bevölkern vor allem den Domplatz, wo sich verschiedene deutsche Verfassungsorgane präsentieren.

Manche der Besucher, zeigen sich wirklich ausgesprochen interessiert daran, wie zum Beispiel eigentlich der Bundesrat arbeitet und was eigentlich das Bundesverfassungsgericht tut. An Dingen also, die eigentlich zu jeder politischen Grundbildung gehören sollten und die viele doch nicht wissen, was auch ein Grund für den Zustand Deutschlands im Jahr 2022 ist. Wieder andere sind vor allem auf all die kleinen, oft schwarz-rot-gold geschmückten Geschenke aus, die es überall zu ergattern gibt.

Überschattet wird die Sorge um die innere Einheit Deutschlands bei diesen Feierlichkeiten nur durch die Sorgen darum, wie es mit diesem Land, mit diesem Europa und mit diesem Westen in den nächsten Jahren wohl weitergehen wird, wenn es Deutschland, Europa und dem Westen nicht gelingen sollte, den russischen Imperialismus zurückzudrängen, der sich im Angriffskrieg gegen die Ukraine seit Februar unübersehbar zeigt.

„Das Feiern fällt uns schwer in diesem Jahr, der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt“, sagt Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD), die nach Ramelow während des Festakts spricht. Wie für andere, die an diesem Tag das Wort ergreifen, ist für sie deshalb klar, dass die Ukraine jede mögliche deutschen Unterstützung verdient, um sich gegen die russischen Aggressoren zu wehren. „Die mutigen Ukrainerinnen und Ukrainer erinnern uns jeden Tag aufs Neue an den Wert von Frieden, Freiheit und Demokratie“, sagt Bas. Diese Werte machten die deutsche und europäische Art zu leben aus. „Für sie sind die Menschen in der DDR 1989 auf die Straße gegangen.“

Das war bekanntermaßen die Voraussetzung für die deutsche Einheit.

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