Persönliche Bedürfnisse werden automatisch zurückgestellt, um Covid-19-Patienten zu versorgen. Die Schwestern der Station machen das seit fast einem Jahr. Obwohl ihre Erschöpfung spürbar ist, tun sie tagtäglich diese schwere Arbeit: Pflege unter widrigsten Umständen. Keine Schwester hat das während ihrer Ausbildung in dieser Form gelernt. Das Gleiche gilt für Ärzte. Auf ihnen lastet enorme Verantwortung.
Das Telefon klingelt und holt meine abschweifenden Gedanken abrupt wieder ins Stationsgeschehen. Eine neue Patientin wird angekündigt für das eben freigewordene Bett. Zwei Schwestern ziehen los. Beim ersten Mal erschütterte der Vorgang mich noch: Der infektiöse Patient muss mit Folie im Bett oder Rollstuhl abgedeckt werden. Für sein Gesicht bekommt er ein Loch eingerissen. Auf diese Weise von vermummten Schwestern abgeholt zu werden, bedeutet seelischen Stress für die Menschen. Sie kommen über die Notaufnahme, von anderen Stationen oder werden im ambulanten Bereich „rausgefischt“. Wenn sich dann die Tür der Isolierstation hinter dem Patienten schließt, ticken die Uhren anders. Das Personal lässt sich nur noch über die Stimme oder über die Art der Bewegung wiedererkennen. Den schnellen Sprung ins Zimmer, um nach dem Rechten zu sehen, etwas nachzufragen oder auf die Klingel zu reagieren, gibt es auf der Isolierstation nicht.
Ärzte und Schwestern können nur ratlos den Kopf schütteln, wenn Mitbürger behaupten, es wäre alles nicht so arg und es gäbe keine Übersterblichkeit. Dabei wäre es doch ein Leichtes, Ärzte und Schwestern zu befragen, die tagtäglich mit dieser Thematik zu tun haben. Doch offensichtlich benutzen manche Menschen lieber andere Quellen. Solche Behauptungen reichen bis auf die Isolierstation. Schwestern erzählten mir, dass sie da schon krasse Episoden erlebt hätten. Es gab tatsächlich Patienten, die sich lächerlich machten über die notwendigen Schutzmaßnahmen. Das stelle man sich vor: Ausgerechnet die Menschen bekommen das an den Kopf geworfen, die sich selbst in Gefahr begeben, um die Ignoranten vor den schlimmsten Folgen zu schützen.
Meine eigene Sicht auf das Virus ist im letzten Jahr mitgewachsen. Ende März 2020 hatte ich mein druckfertiges Buch „Unvollkommen glücklich – Vom Mut, ich selbst zu sein“ um ein aktuelles Kapitel ergänzt. Darin geht es um Mut in unsicheren Zeiten und es gibt erste Coronabezüge. Schon damals flößte mir das Virus Respekt ein. Gleichzeitig waren Zuversicht und Gottvertrauen immer meine Begleiter. Auf der Isolierstation steht mir nun deutlich vor Augen, was ich vorher eher mit dem Kopf verstanden hatte: wie tückisch und unberechenbar dieses Virus ist. Und wie massiv es unseren Anspruch auf ein Leben nach eigenen Vorstellungen hinterfragt. Ich erlebe nun ganz existenziell, was ich damals aus der psychologischen Perspektive so beschrieb: „Kaum etwas hilft uns mehr aus emotionaler Bedrückung, als etwas Sinnvolles tun zu können. Für uns und für andere.“
Es fühlt sich einfach richtig an, hier zu sein als Ansprechpartnerin für medizinisches Personal. Die Ärzte nutzen dies im Rahmen von regelmäßigen Teamsupervisionen. Mit Schwestern ergeben sich die besten Gespräche beim gemeinsamen Arbeiten. Immer schwingen dabei persönliche Belastungen mit. Die eine hat Trouble in der Familie. Der andere macht sich Gedanken darum, wie sein Zwölftklässler demnächst das Abitur bewältigen wird. Leiharbeitskräfte sind weit weg von Zuhause und wissen nicht, wie sie die Freizeit in unserer derzeit „schlafenden“ Kleinstadt nutzen können. Unser Team auf der Isolierstation ist bunt zusammengewürfelt aus Pflegerinnen und Pflegern, die bereit gewesen sind, sich dort einsetzen zu lassen. Es stellt die Beteiligten täglich vor Herausforderungen, Hand in Hand zu arbeiten, ohne als echtes Team zusammengewachsen zu sein.
Ich komme mit einer unserer neuen Patienten, Frau Sch., ins Gespräch. Sie erzählt mir, dass ihr Mann ebenfalls im Haus liegt und noch gar nicht weiß, dass sie nun auch eingeliefert wurde. Nun will sie ihn besuchen - unmöglich. Ein weißes A4-Blatt hilft weiter. Die Patientin diktiert, ich schreibe. Gemeinsam suchen wir passende Worte, um den herzkranken Mann gleichzeitig informieren und beruhigen zu können. Der letzte Satz sprudelt aus Frau Sch. heraus: „Wir drücken uns gegenseitig die Daumen, dass wir noch viele schöne Stunden mit unseren Enkeln erleben können. Deine J.“ Anschließend bringe ich den Brief auf die andere Station. Ich darf ins Zimmer des Patienten. Er liegt zusammengerollt in seinem Bett. Die Langeweile lässt er gern unterbrechen. Nachdem ich den Brief vorgelesen habe, reiche ich ihn Herrn Sch. Er steckt das gefaltete Blatt mit einer raschen Bewegung unter sein Kopfkissen. In seinen Augen schimmern Tränen.
Natürlich gibt es Situationen, in denen auch ich nicht weiß, was ich sagen oder tun soll. Dann gebe ich trotzdem, was ich habe: Ein offenes Ohr, ein weites Herz und den einen oder anderen weiterführenden Gedanken. Ich mag den Leitspruch der Pastorin Monika Deitenbeck-Goseberg, die kurz vor Ausbruch der Pandemie in Deutschland verstarb. Sie sagte immer wieder: „Wir sind dazu auf der Welt, um es anderen leichter zu machen zu leben, zu lieben, zu leiden und zu glauben.“
Wie weise. So zeigt sich Christsein von der besten Seite. Deshalb bin ich gern dabei. Ich möchte es Menschen leichter machen, Patientinnen und Patienten, Ärztinnen und Ärzten, Schwestern und den Verantwortlichen des Hauses. In unserer Menschlichkeit sind wir alle gleich bedürftig nach Zuspruch, Wertschätzung und Unterstützung. Als der Verwaltungsleiter unter seine Mail den kurzen Satz schrieb: „Schön, dass Sie bei uns sind“, war das eine echte Bestätigung für mich.
Als ich Frau W. beim nächsten Dienst wieder aufsuche, liegt sie im Sterben. Leise singe ich ihr noch einmal das Lied vor - „Der Mond ist aufgegangen.“ Ich habe den Text inzwischen aufgefrischt. Frau W. öffnet die Augen und wendet mir ihr Gesicht zu. Später will sie nur noch, dass ich still bei ihr bleibe und ihr die Hand halte. Zwischendurch sagt sie ein paar Mal: „Du bist ein liebes Mädchen!“ Gerührt antworte ich ihr: „Und Sie sind eine freundliche Frau.“ Ihre Hand hält mich fest, sobald ich eine kleine Bewegung mache, um mich leise zu entfernen. Ich schmunzle und bleibe noch länger sitzen. Später frage ich sie: „Darf ich Ihnen noch einmal die Lippen anfeuchten?“ „Gerne.“ Ihre Hand löst sich. Mit einem Stielschwämmchen wische ich Frau W. vorsichtig über die Lippen. Dann streichle ich sie zart und verlasse mit einem Segensgebet im Herzen leise das Zimmer.
Christina Ott, Jahrgang 1967, lebt mit ihrer Familie in Schmalkalden. Sie arbeitet selbstständig als Psychologische Beraterin/Supervisorin, Referentin und Autorin. Dieser Artikel erschien zuerst auf family.de, der Onlinepräsenz der Familienzeitschrift „Family.“