Doppelt im Rennen Schreibt Oberhoferin Oscar-Geschichte?

Gerd Roth

Sandra Hüller ist gleich zwei Mal im Rennen um die berühmten Filmpreise. Ein Streifen kommt nächste Woche in die Kinos.

 
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Sandra Hüller Foto: dpa/Jonas Walzberg

Aus deutschen Kinosesseln betrachtet ist Sandra Hüller seit „Requiem“ oder  „Toni Erdmann“ eine Garantin mitreißender Filmstunden. In den vergangenen Jahren hat die Schauspielerin zudem international immer mehr an Reputation gewonnen. Nun spielt die 45-Jährige in „Anatomie eines Falls“ der französischen Regisseurin Justine Triet eine überaus selbstbestimmte Frau unter Mordverdacht. Mit dem in Cannes ausgezeichneten Film, der am Donnerstag (2. November) in die Kinos kommt, werden bereits Hüllers Chancen im anstehenden Oscar-Trubel kalkuliert.

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Die erfolgreiche Schriftstellerin Sandra (Sandra Hüller) lebt mit ihrem Mann Samuel (Samuel Theis) und Sohn Daniel (Milo Machado Graner) in den französischen Alpen. Krisen und Schulden nagen an der Liebe, zudem hadert Samuel mit dem eigenen Buch. Als Samuel tot vor dem Chalet gefunden wird, steht Sandra im Fokus. Sie wird angeklagt, ihren Mann im gemeinsamen Haus umgebracht zu haben. Doch eindeutig ist der Fall nicht und Zeugen gibt es keine. Vor Gericht werden sogar Sandras Romane als Beweismittel angeführt. In den Medien wird der Fall seziert. Das Paar hat einen fast blinden Jungen, der zur Zeit des Vorfalls mutmaßlich außer Haus war. Auch er muss vor Gericht erscheinen und seine eigene Version der Geschehnisse präsentieren.

Hüller spielt eine undurchsichtige Frau, die die Zuschauer bis zum Schluss über ihre Beweggründe rätseln lässt. Regisseurin Triet lobte ihre Hauptdarstellerin. „Sie ist extrem offen für alles, was am Set passiert“, sagte sie. Man habe nicht viel proben müssen. „Sandra schafft es, so zugänglich zu sein, so offen.“

In „Anatomy eines Falls“ geht es nicht vordergründig darum, was passiert ist. Sondern um die Frage, wie Geschichten konstruiert werden. Deshalb braucht Sandra die Hilfe eines befreundeten Anwalts (Swann Arlaud), gerade auch gegen den geschickt agierenden Staatsanwalt (Antoine Reinartz).

Für Hüller und Regisseurin Triet ist es nach „Sibyl“ der zweite gemeinsame Film. Das sei „sehr gleichberechtigt und auf Augenhöhe, sehr frei, sehr humorvoll und irgendwie durch ein Grundverständnis sehr einfach“ gewesen, schildert Hüller die Zusammenarbeit.

Hüller wurde in Suhl geboren und wuchs in Oberhof und Friedrichroda auf. Inzwischen lebt sie in Leipzig. Dass die Figur, die sie in dem Film verkörpert, auch Sandra heißt, spielt keine Rolle. Sie sieht vielmehr die Stärken in der Figur der Sandra. „Ich bewundere sie sehr für ihre Klarheit, für ihre Offenheit, für ihre Stärke, für ihre Geradheit und für die Verantwortung, die sie für all ihre Taten übernimmt oder für Unterlassenes“, sagt Hüller. „Sie entschuldigt sich für nichts, was sie macht, weil sie hinter allem steht, was sie tut, weil sie es sich offenbar gut überlegt hat.“

Besonders deutlich wird dies in einer der Schlüsselszenen, eine der wenigen Rückblenden in der Filmerzählung. Sandra und Samuel geraten in Streit über den Einsatz von Lebenszeit. Wer macht was, wer profitiert davon, wer kann seine Wünsche umsetzen? Und: wer trägt dafür die Verantwortung? Ein fundamentales Problem des Paares wird hier besonders deutlich: die Deutsche und der Franzose reden, lieben und streiten auf Englisch. Es ist der sprachliche Kompromiss der kleinen Familie, der brüchige gemeinsame Nenner.

Für Hüller ist das ein guter Grund, den Film im Original zu sehen. „Es ist ein wichtiger Konflikt des Paares“, sagt sie. Die Synchronisationsfassung wurde umgeschrieben, in einer deutschen Fassung würde der Sprachkonflikt nicht deutlich. Auch vor Gericht spielt die Sprachkompetenz der Beteiligten eine zentrale Rolle.

Zweieinhalb Filmstunden lang geht es im Geflecht der unterschiedlichen Beziehungen auch um die Schuldfrage. Triet markiert dafür Kipppunkte in der Story, die kaum sichere Erkenntnis zuzulassen scheinen. Hüller, Arlaud, Reinartz und Machado Graner verlocken mit ihrem Spiel zudem zu vermeintlich sicheren Perspektiven, die sich dann schnell als mindestens zweifelhafte Einschätzungen entpuppen können.

Triet spielt auch aus Hüllers Sicht mit dieser Frage. „Mit unseren Projektionen auf diese doch sehr erfolgreiche, freie Person, die sich an überhaupt keine Codes hält von Freundlichkeiten, Nettigkeiten, es einfacher machen für die anderen oder sonst was“, sagt die Schauspielerin. „Das ist irritierend und stößt manche Leute auch ab.“

In Cannes ist „Anatomie eines Falls“ mit der Goldenen Palme als bester Film ausgezeichnet worden. Das Team ist im Gespräch für das Oscar-Rennen, auch Hüller als Hauptdarstellerin. Die Shortlist wird am 21. Dezember bekannt gegeben, die Nominierungen am 23. Januar.

Das Besondere daran ist: Unter den für den Oscar eingereichten Filmen ist auch „The Zone of Interest“ des britischen Regisseurs Jonathan Glazer. Hüller spielt darin Hedwig Höß, Frau des Lagerkommandanten im KZ Auschwitz Rudolf Höß. Das Drama erzählt vom häuslichen Alltag der Familie Höß, die direkt am KZ Auschwitz ein luxuriöses Haus bewohnte. Von Auschwitz sehen die Zuschauer nur die Außenmauern oder einen rauchenden Schornstein. Schreie sind zu hören, während Hedwig ihren stattlichen Garten abschreitet oder dem Baby Blumen zeigt. Das Grauen wird durch den starken Kontrast zum Leben der Familie Höß deutlich. Im Laufe der Geschichte entfaltet Hüller so subtil wie mächtig die Monstrosität, die in ihrer Figur verborgen liegt.

Der Film, nun ebenfalls Oscar-verdächtig, kommt im Februar in die Kinos. Wie „Anatomie eines Falls“ hatte auch „The Zone of Interest“ eine Einladung nach Cannes bekommen und war hier mit dem Großen Preis der Jury, der zweitwichtigsten Auszeichnung geehrt worden.

Nach einem Bericht des Fachblatts „Variety“ könnte Hüller damit ein kleines Stück Oscar-Geschichte schreiben. Sie wäre die erste Schauspielerin in nicht englischsprachigen Produktionen mit zeitgleichen Nominierungen für Haupt- und Nebenrolle. Ein Vorzeichen gibt es bereits: Hüller ist nominiert für die Gotham Awards. Die seit 1991 verliehenen Preise gelten als Auftakt der Trophäensaison, die im März mit der Oscar-Verleihung endet.

Wie sie sich für eine Rolle entscheide, folge keinen festen Kriterien, erläutert Hüller im Gespräch. „Ich habe da keinen Katalog“, sagt die 45-Jährige. „Das ist wirklich immer eine Intuitionsentscheidung, ob ich mit jemandem lange etwas zu tun haben will.“

So sei die Entscheidung beim Angebot für „Anatomie eines Falls“ rasch gefallen. „Ich war sofort verliebt in die Rolle. Ich wollte das unbedingt machen“, sagt Hüller. Ganz andere Kriterien nennt sie bei ihrer Entscheidung für die Rolle der Hedwig Höß, in „The Zone of Interest“. Die Zusage hat sie sich nach eigenen Angaben nicht leicht gemacht. „Die Höß-Rolle habe ich nicht angenommen wegen der Höß oder weil mich interessiert hat, wie die ist, sondern für Jonathan Glazer“, sagt Hüller. „Es ging überhaupt nicht um die Figur, an keiner Stelle.“