Corona im Heim Eine Altenpflegerin klagt an

Ingrid Theilig
Einsamkeit und Unverständnis für Corona-Maßnahmen ist eine dramatische Herausforderung beispielsweise für Demenzkranke in Pflegeheimen. Die abgebildete Situation ist symbolisch und steht in keinem direkten Zusammenhang zu dem Offenen Brief aus Römhild. Foto: dpa/Frank Molter

„Mutti ist nicht an Corona, sondern Einsamkeit gestorben“, schreibt Ingrid Theilig aus Römhild als offenen Brief an den Thüringer Ministerpräsidenten, die Kanzlerin, den Bundespräsidenten und den Bundesgesundheitsminister. inSüdthüringen.de veröffentlicht ihn.

 
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Römhild - Vor einem Jahr legten wir das Geschenk zum 40. Geburtstag unserem Sohn vor die Haustür und gratulierten per Handy. Seitdem ist unser Alltag geprägt von Einschränkungen, sozialer Isolation und vielerlei Ängsten: Angst um die Stabilität unserer Wirtschaft, vor dem Abbau vieler Arbeitsplätze, vor sozialen und politischen Konflikten, vor der Verödung unserer Innenstädte, vor schulischen Defiziten unserer Enkel…

Die größten Probleme bereitete mir im Corona-Jahr mein Beruf als examinierte Altenpflegerin. Ein Jahr lang schon isolieren wir unsere Ältesten, um sie zu schützen. Wochenlang keine direkten Kontakte zu den Angehörigen, Personal und Angehörige in Schutzkleidung, sie fühlen sich wie in einem Klinikum, isoliert in ihren Zimmern, dabei sollte ein Pflegeheim ihr letztes Zuhause sein.

Das, was ein Heim „heimelig“ macht: das gemeinsame essen, trinken, schwatzen, singen, kochen, backen, Zeitungsschau, Gottesdienst, Kaffee trinken mit den Angehörigen, aber auch gute Pflege inklusive Friseur und Fußpflege haben sie viel zu lange vermisst. Orientierte und mobile Heimbewohner teilten uns ihre Ängste mit.

Sie hatten weniger Angst vor dem Virus, aber litten sehr stark unter der Einsamkeit, verglichen die Situation mit Erlebnissen im Krieg. Sie wissen, dass sie in naher Zukunft sterben werden, haben sich mit dem Tod auseinandergesetzt, möchten aber nicht einsam sterben. Die Heimbewohner sind körperlich geschwächt durch weniger Mobilität und psychisch stark belastet: depressiv, aggressiv, traurig, verzweifelt, haben Schlafstörungen, in Absprache mit den Hausärzten wurde verstärkt Psychopharmaka verordnet.

Aber die großen Corona-Verlierer sind die Demenzkranken. In meiner Ausbildung nannte man den jetzigen Zustand „psychischen Hospitalismus“. Durch die Einsamkeit nehmen psychische Störungen zu: Interessenverlust, Gewichtsverlust, Apathie, Aggressivität …

Demenzkranke verstehen die Situation nicht, haben Angst vor unserer Schutzkleidung und verdeckten Gesichtern, erkennen uns und ihre Angehörigen nicht mehr. Sie können sich nicht selbst ablenken von der schwierigen Situation durch lesen, rätseln, Musik hören, TV schauen, telefonieren. In einigen Heimen sollen Demenzkranke im Zimmer eingeschlossen worden sein, weil sie den Sinn der Quarantäne nicht verstehen und ständig Kontakt suchen.

Meine schlimmste Erfahrung mit einer Demenzkranken in Corona-Zeit war der Tod meiner Mutter. In der ersten Isolationsphase in ihrem Pflegeheim in Sachsen hielten wir Mutti mit lustigen Karten und Anrufen einigermaßen psychisch stabil. Im Sommer verbrachten wir viel Zeit mit ihr.

Ein ehrliches Gespräch

In Vorahnung einer weiteren Corona-Welle, holte ich sie im Oktober für eine Woche nach Thüringen. Sie war eine fröhliche, kindliche Demenzkranke, die zwar unsere Namen nicht mehr wusste, aber spürte, dass die Enkel und Urenkel zu ihrer Familie gehörten.

Zwei Wochen später musste ihr Pflegeheim wieder schließen wegen einiger Corona-Fälle. Sie weinte am Telefon und war sehr durcheinander. Dann erhielt ich einige Anrufe, dass sie geschwächt war und mehrfach kollabierte, weil sie isoliert auf ihrem Zimmer weniger aß und trank. Sie erhielt Infusionen, ich sollte mir keine Sorgen machen, sagten die Bereitschaftsärzte, dann wurde sie positiv getestet, aber ohne Symptome. Sie lehnte energisch essen und trinken ab, entfernte die Infusionen. Wir durften in dieser schwierigen Phase nicht zu ihr.

Erst eine Woche später erhielt ich Besuchserlaubnis. Ich saß in voller Schutzkleidung vor ihrem Bett und durfte mich eine Stunde verabschieden, Mutti war nicht mehr ansprechbar und weilte schon in einer anderen Welt. Meine Trauer vermischt sich mit Selbstvorwürfen, sie allein gelassen zu haben ohne Sterbebegleitung.

Ihre Hausärztin führte mit mir ein ehrliches Gespräch: Mutti ist nicht an Corona, sondern Einsamkeit gestorben, sie wollte so nicht mehr leben. Wie vielen Angehörigen wurde so in den letzten Monaten die Trauer erschwert?

Seit zwei Wochen bin ich Altersrentner und in meinem Heim läuft ein Hotspot ab, trotz Schutzkleidung, regelmäßiger Schnelltests, Vitalzeichenkontrolle und Quarantäne sind viele Mitarbeiter und vor allem Heimbewohner erkrankt. Einige schwerstpflegebedürftige Heimbewohner sind gestorben, aber auch mobile und orientierte sind von uns gegangen nach einer langen Phase der Isolation, das macht mich sehr traurig und nachdenklich.

Schonungslose Analyse

Wir haben einen schönen Beruf, ich kenne viele motivierte und engagierte Altenpfleger und Krankenschwestern. Aber unsere Arbeitsbedingungen haben sich in den 20 Jahren seit meiner Ausbildung dramatisch verschlechtert. Anfangs war die schlechte Bezahlung alleinige Ursache für die hohe Fluktuation. Aber mittlerweile ist ein Faktor wesentlich für die fehlenden Pflegekräfte und den hohen Krankenstand: der Personalschlüssel.

So lange in Deutschland mit Krankheit, Operationen und Pflege Geld verdient wird, sparen die Verantwortlichen an Personalkosten und diese andauernden Belastungen treten besonders in der Corona-Krise zu Tage. Die Berufszufriedenheit hat rapide abgenommen, Zeitmangel und Hektik bestimmen den Pflegealltag: Heimbewohner, Angehörige und Pflegepersonal leiden darunter.

In den letzten Jahren wurden verstärkt ausländische Pflegekräfte in der Pflege eingesetzt, sehr freundliche und fleißige Mitarbeiter, aber die wenigsten sind geblieben: zu hohe Arbeitsbelastung.

Als Mentor für ausländische Pflegekräfte durfte ich 2016 an einer Studienreise nach Aarhus in Dänemark teilnehmen. Wir konnten uns in unserem Nachbarland überzeugen, wie ein bürgernahes Gesundheits- und Sozialwesen funktioniert. Wir erhielten in stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen viele ungewöhnliche Informationen: sehr komfortable Einzelzimmer, kleine Wohngruppen von maximal zehn Personen, traumhafte Personalschlüssel, Wunschdienste für junge Muttis, einen Personalpool in jeder Region (Studenten, Ruheständler aus sozialen- und Gesundheitsberufen, die kurzfristig für krankes Stammpersonal einspringen) gleiche Bezahlung von Altenpflegern und Krankenschwestern im ganzen Land, dadurch kaum Fluktuation, auf Wunsch Arbeit in Vollzeit (37 Stunden) im Rhythmus fünf Tage Arbeit und zwei Tage frei, wie die meisten Werktätigen. In jedem Heim wurde in einer eigenen Küche frisch und gesund gekocht. Die staatliche Regulierung des Gesundheits- und Sozialwesens ermöglicht diese hohe Wertschätzung ihrer Ältesten in Wort und Tat.

Ich habe einen Traum: Mutige Politiker werten kompromisslos Vor- und Nachteile der Corona-Maßnahmen aus, schauen dabei auch über Landesgrenzen und starten Reformen für unsere Gesellschaft. Dann kann ich in Deutschland beruhigt alt werden.

Übrigens vermisse ich in allen Medien Informationen zur individuellen Stärkung des Immunsystems. Bereits 1886 empfahl uns Sebastian Kneipp seine fünf Wirkprinzipien: Hydro-, Phyto-, Bewegungs-, Ernährungs- und Ordnungstherapie. So habe ich mich nach einer fast tödlich verlaufenden Virusinfektion wieder ins Leben gekämpft. Nach vier Monaten Krankheit und Aufenthalt in einer Lungenklinik empfahl mir ein Internist: abhärten und Sport treiben. Es hat funktioniert.

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