Brennstoffmangel Heilig Abend im kalten Wohnzimmer

Zwei Mal mussten die Wagners in ihrem Leben zur Bescherung frieren, weil es in Deutschland nicht genug Heizmaterial gab. Sie haben ein einzigartiges Zeugnis hinterlassen: Von 1900 bis 1942 haben sich die aus Erfurt stammende Anna und der Berliner Richard vor ihrem Weihnachtsbaum abgelichtet. Die Sammlung erzählt eine ganz besondere Weihnachtsgeschichte für die aktuelle Gegenwart.

 
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„Das gibt’s nur einmal, das kommt nicht wieder, das ist vielleicht nur Träumerei. Das kann das Leben nur einmal geben, vielleicht ist’s morgen schon vorbei ...“, singt Lilian Harvey 1931 in einem Film. Bis heute ist der Schlager bekannt. Wer sich durch die Geschichte liest, zweifelt allerdings an der Aussage. Zu viel scheint sich im Lauf der Jahre dann doch zu wiederholen und sei es nur als Schatten der Vergangenheit.

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Durch einen Zufall ist das Berliner Museum Charlottenburg-Wilmersdorf zu einer Fotosammlung gelangt, die es in Deutschland so nicht ein zweites Mal gibt. Der Reichsbahnbeamte Richard Wagner hat sich gemeinsam mit seiner aus Erfurt stammenden Frau Anna jedes Jahr vor dem Christbaum abgelichtet. Auf zahlreichen Bildern ist vermerkt, was man sich schenkte und was die Nettigkeiten kosteten. Die Nicolaische Verlagsbuchhandlung hat die Sammlung mit Kommentaren als Buch herausgebracht.

Beim Blättern fallen in diesem Jahr zwei Bilder besonders auf: Die Wagners stehen im Wintermantel vor dem Tannenbaum – 1917 und 1940. In ihrer zweieinhalb Zimmer Wohnung des Beamten-Wohnungs-Vereins ist es offensichtlich so kalt, dass sie sich nicht anders zu helfen wissen. Es ist die Zeit des Ersten und des Zweiten Weltkrieges, die von Brennstoffmangel gekennzeichnet sind.

Die Bevölkerung bekommt ein mongolisches Aussehen

Für das Weihnachtsfest 2022 werden vor ein paar Wochen ähnliche Szenarien diskutiert, aber vermutlich muss durch staatliche Hilfspakete nun doch niemand in seiner eigenen Wohnung frieren. Weihnachten 2023 könnte es allerdings ernster werden. „Das nächste Jahr – 2023 – könnte sehr viel schwieriger werden als dieses Jahr“, sagt der Chef der Internationalen Energieagentur, Fatih Birol, Mitte Dezember nach Gesprächen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Er erklärt, dass die Umstände, die es EU-Ländern erlaubt hätten, ihre Speicher vor diesem Winter zu füllen, im nächsten Jahr eventuell wegfallen könnten.

Vor dem Ersten Weltkrieg entfallen 46,5 Prozent aller deutschen Einfuhren auf Rohstoffe aus Übersee. Kein kriegführendes Land hat Vorbereitungen für einen langen Krieg getroffen. Nach dem Wegfall der Importe durch die britische Seeblockade müssen möglichst viele Rohstoffe durch Verbrauchssenkungen eingespart oder durch Beimischung anderer Stoffe gestreckt werden.

Einen Höhepunkt erreicht die Versorgungskrise schon im Winter 1916/17: Als Ersatz für Kartoffeln wurden Kohlrüben ausgegeben. Sie gedeihen bei jedem Wetter und benötigen kaum Kunstdünger, sind jedoch vitaminreich. Der Kalorienanteil ist aber gering. Ein Arzt notiert über die Folge der Unterernährung: „Die Berliner Bevölkerung bekommt Woche zu Woche mehr ein mongolisches Aussehen. Die Backenknochen treten hervor, und die entfettete Haut legt sich in Falten.“

Die aus dem Kohlemangel resultierenden Produktionseinbrüche bei Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerken verschärfen die Lage der unter der extrem kalten Witterung leidenden Bevölkerung. Zur Steigerung der Kohleförderung werden zwar 40 000 eingezogene Bergleute von der Front abkommandiert, aber auch mit deren Hilfe und mit weiteren mobilisierten Arbeitskräften kann nicht genügend Kohle gefördert werden.

Erfolglose Spar-Appelle 1917 und 2022

Im Juni 1917 schreibt die „Frankfurter Zeitung“: „Zweifellos ist bei dem Verbrauch von Gas und Elektrizität bisher nicht so sparsam gewirtschaftet worden, wie es möglich gewesen wäre. Es hat sich auch niemand vor dem Zwang zur Sparsamkeit gesehen, weil ja bisher in den weitaus meisten Fällen die Anforderungen ohne weiteres erfüllt worden sind.“ 1917 wird deshalb eine Zentralstelle für die Gas- und Elektrizitätsversorgung geschaffen. Sie soll den Gas- und Elektrizitätsverbrauch auf 90 Prozent des Verbrauchs im gleichen Monat des Vorjahres herabdrücken. „Bei gutem Willen und bei dem verständigen Ineinanderarbeiten der Verbraucher und der Krafterzeuger wird sich diese Einschränkung ohne allzu viel Reibung durchführen lassen“, schreibt die „Frankfurter Zeitung“.

Das liest sich fast so wie eine Nachricht vom 12. Dezember 2022: Die Bundesnetzagentur hat die Menschen in Deutschland aufgefordert, mehr Gas zu sparen, als sie es derzeit tun. „Aktuell liegen die Einsparungen insgesamt nur noch bei 13 Prozent“, sagt der Präsident der Behörde, Klaus Müller, dem „Tagesspiegel“. Die Bundesnetzagentur hält jedoch Einsparungen von 20 Prozent für nötig. „Wenn das ein Ausreißer bleibt, muss uns das noch nicht beunruhigen. In den nächsten Tagen wird es aber kalt bleiben. Es ist deswegen wichtig, dass wir mit den Sparanstrengungen nicht nachlassen und den ganzen Winter durchhalten“, mahnt Müller.

Die Kochkiste gart auch ohne Gas und die Inflation bleibt Jahre

Die Wagners in Berlin zeigen mit ihrem Weihnachtsfoto von 1917, dass die Spar-Appelle offensichtlich nicht ausreichten. Schon im September werden Kohlekarten zum rationierten Bezug des Brennstoffs ausgegeben, auch die Zufuhr von Gas und Heizöl ist beschränkt. Ein Renner der Saison sind Kochkisten, von denen auch auf dem Weihnachtsbild eine zu sehen ist. Damit können Speisen, die zuvor auf einem regulären Herd angekocht wurden, energiesparend weitergaren. Die Kochkisten sind gut isolierte Holzbehälter mit fest verschließbaren Porzellanbehältern. Der Vorteil: Es kann nichts mehr anbrennen. Kriegskochkisten der Firmen Moha oder Heinzelmännchen kosten 1917 doppelt so viel wie in der Vorkriegszeit, nämlich 30 Mark. Auch das erinnert wieder an die Gegenwart: „Zwar ist der Camping-Kocher im Laufe der letzten Jahre deutlich teurer geworden und bei den Gaskartuschen hat sich der Preis knapp verdoppelt, doch insgesamt ist das Preisleistungsverhältnis zum aktuellen Zeitpunkt in Ordnung“, schreibt der „Krisenvorsorge Ratgeber“ im Herbst 2022.

Preissteigerungen vermerken auch die Wagners auf den Weihnachtsbildern der nächsten Jahre. 1920 hat Richard Wagner die „mittelschweren“ Handschuhe für seine Frau schon im Juli für sieben Mark erstanden – im Dezember kosten sie bereits 35 Mark. 1922 kann er darüber nur lachen: Eine Tafel Schokolade kostet 500 Mark statt 7,50 Mark im Vorjahr. Der Tannenbaum schlägt mit 350 statt zwölf Mark zu Buche. 1923 wütet die Inflationen mit Geldscheinen zu Billionen Mark, aber im November wird auf die neue „Rentenmark“ umgestellt und der Wahnsinn beendet. Die Kassen sind aber auch bei den Wagners leer. Selbst der Christbaum ist in dem Jahr besonders mickrig. Der hohen Frachtkosten wegen werden die Bäume nicht wie bisher aus Thüringen, dem Harz oder Schleswig-Holstein geholt, sondern auf der kargen märkischen Erde geschlagen.

Der gereimte Kohleklau geht dem hydraulischen Abgleich voraus

Die folgenden Jahren wird es besser – keine Krise dauert ewig. 1926 wird ein elektrisches Bügeleisen für 18,50 Mark angeschafft, im Jahr darauf eine elektrischer Progress-Staubsauger für beachtliche 180 Mark und eine elektrische Lichterkette von Osram für 18,50 Mark. Ihr besonderer Wert wird sich später zeigen. 1930 folgen ein elektrischer Massageapparat und ein Fön. 1933 steht ein Backapparat auf dem Gabentisch, 1935 ein Heizapparat – zu den Festtagen sinkt das Thermometer in Berlin auf minus zehn Grad. Höhepunkt 1937 ist das Volksempfänger-Radio für 87 Mark .

1939 beginnt der Zweite Weltkrieg und auch in diesem werden die Rohstoffe wieder knapp. 1940 sitzen die Wagners erneut im Kalten. „Sie wirken bemerkenswert heiter, dabei mussten sie ein zweites Weihnachtsfest im Wintermantel erleben“, schreibt Buchautorin Birgit Jochens.

Unter der Losung „Kampf dem Kohlenklau“ beginnt in Deutschland am 7. Dezember 1942 eine Propagandaaktion zur Einsparung von Brennstoffen. Um der Kriegsmaschinerie die notwendige Versorgung mit Energie zu sichern, wird versucht, die Menschen zum Sparen zu bewegen. Die gedruckte Karikaturen mit dem Kohlenklau – ein Mann im Gangster-Outfit – werden in vielen Tageszeitungen veröffentlicht. Meist enden die kurzen Geschichten mit der Warnung: „Hier ist für ihn nichts mehr zu machen – Paß auf, jetzt sucht er andre Sachen!“ Später werden Szenen der Energieverschwendung ausgeführt und der Leser abschließend angesprochen: „Nun halt’ dir den Spiegel vor’s Gesicht – Bist du es oder bist du es nicht?“

Nicht ganz so poetisch sind die aktuellen Aufrufe des Bundeswirtschaftsministers, bei allen Heizungen einen hydraulischen Abgleich durchzuführen, um Gas zu sparen oder der Hinweis eines süddeutschen Ministerpräsidenten, sich mit Waschlappen abzureiben statt zu duschen .

1942 ist das letzte Weihnachtsfoto der Wagners. Ihr Weihnachtsbaum leuchtet mit der 1927 angeschafften elektrischen Lichterkette. Die Zuteilung an Wachskerzen ist in dem Jahr so knapp, dass sich viele Frauen in den Mütterschulen der NS-Frauenschaften daranmachen, aus mitgebrachten Wachsresten und Baumwollfäden in Kaperngläsern oder Aspirinröhren selbst Kerzen zu ziehen – so berichtet der „Berliner Lokalanzeiger“. „Gehen dem Einzelhandel im Winter die Kerzen aus?“, fragt nun am 3. Dezember 2022 die „Berliner Morgenpost“. Aus Furcht vor Blackouts würden viele Menschen jetzt Kerzen horten, im Handel würden sie knapp, heißt es da. Im Gegensatz zum Weihnachtsfest vor 80 Jahren ist aber wohl doch kein ernsthafter Engpass auf Dauer zu befürchten, beruhigt die Zeitung.

Die große Liebe oder davon geht die Welt nicht unter

1942 haben die Wagners den Film „Die große Liebe“ im Kino gesehen. „Davon geht die Welt nicht unter“, ist ein bekannter Schlager aus dem Streifen. Die Weihnachtsfotos der Wagners zeigen über mehr als vier Jahrzehnte das Leben einer kleinen Familie aus der Mittelschicht, die trotz aller Widrigkeiten Weihnachten zum Höhepunkt des Jahres macht. Das Fest ist der Anker in den stürmischen Zeiten, die sie erleben. Sie hatten Glück: Richard ist in einem Alter, das ihn bereits im Ersten Weltkrieg vor dem Wehrdienst bewahrt. Anna stirbt 1945 im Alter von 71 Jahren. Er folgt ihr 1950 mit 77 Jahren. Seither fotografieren sie sich, Katze Mietz und ihren Weihnachtsbaum im Himmelreich.

Weitere Informationen

Das Buch: „Deutsche Weihnacht – Ein Familienalbum 1900 bis 1945“ ist in der Nicolaischen Verlagsbuchhandlung Berlin erschienen. Es zeigt auf 85 Seiten die Weihnachtsfotos von Anna und Richard Wagner. Zusammengestellt und mit einem Text versehen wurde es von Birgit Jochens. Die Bilder gehören heute zur Sammlung des Museums Charlottenburg-Wilmersdorf in der Berliner Villa Oppenheim. ISBN 978-3875846034, Neupreis 14,90 Euro. Im Buchhandel könnte das Buch vergriffen sein, es ist allerdings antiquarisch leicht über verschiedene Portale für gebrauchte Bücher zu bekommen und dann meist sogar günstiger als eine ungebrauchte Ausgabe.

Das Museum: Seit 2012 präsentiert das Museum Charlottenburg-Wilmersdorf seine alltagsgeschichtliche Sammlung in der Berliner Villa Oppenheim. „Deutsche Weihnacht 1900 bis 1945“ ist als Wanderausstellung konzipiert und kann bei Interesse auch an anderen Orten gezeigt werden. Die Aufnahmen ermöglichen Einblick in Veränderungen und Zeitläufe, nicht nur hinsichtlich der Anzahl und Art der Weihnachtsgeschenke oder dem Schmuck der Tannenbäume, sondern auch in Bezug auf die sich wandelnde Kleidungsmode, Veränderungen der Wohnzimmereinrichtungen, oder dezente Hinweise auf zeitpolitisches Geschehen.

www.villa-oppenheim-berlin.de