Preissteigerungen vermerken auch die Wagners auf den Weihnachtsbildern der nächsten Jahre. 1920 hat Richard Wagner die „mittelschweren“ Handschuhe für seine Frau schon im Juli für sieben Mark erstanden – im Dezember kosten sie bereits 35 Mark. 1922 kann er darüber nur lachen: Eine Tafel Schokolade kostet 500 Mark statt 7,50 Mark im Vorjahr. Der Tannenbaum schlägt mit 350 statt zwölf Mark zu Buche. 1923 wütet die Inflationen mit Geldscheinen zu Billionen Mark, aber im November wird auf die neue „Rentenmark“ umgestellt und der Wahnsinn beendet. Die Kassen sind aber auch bei den Wagners leer. Selbst der Christbaum ist in dem Jahr besonders mickrig. Der hohen Frachtkosten wegen werden die Bäume nicht wie bisher aus Thüringen, dem Harz oder Schleswig-Holstein geholt, sondern auf der kargen märkischen Erde geschlagen.
Der gereimte Kohleklau geht dem hydraulischen Abgleich voraus
Die folgenden Jahren wird es besser – keine Krise dauert ewig. 1926 wird ein elektrisches Bügeleisen für 18,50 Mark angeschafft, im Jahr darauf eine elektrischer Progress-Staubsauger für beachtliche 180 Mark und eine elektrische Lichterkette von Osram für 18,50 Mark. Ihr besonderer Wert wird sich später zeigen. 1930 folgen ein elektrischer Massageapparat und ein Fön. 1933 steht ein Backapparat auf dem Gabentisch, 1935 ein Heizapparat – zu den Festtagen sinkt das Thermometer in Berlin auf minus zehn Grad. Höhepunkt 1937 ist das Volksempfänger-Radio für 87 Mark .
1939 beginnt der Zweite Weltkrieg und auch in diesem werden die Rohstoffe wieder knapp. 1940 sitzen die Wagners erneut im Kalten. „Sie wirken bemerkenswert heiter, dabei mussten sie ein zweites Weihnachtsfest im Wintermantel erleben“, schreibt Buchautorin Birgit Jochens.
Unter der Losung „Kampf dem Kohlenklau“ beginnt in Deutschland am 7. Dezember 1942 eine Propagandaaktion zur Einsparung von Brennstoffen. Um der Kriegsmaschinerie die notwendige Versorgung mit Energie zu sichern, wird versucht, die Menschen zum Sparen zu bewegen. Die gedruckte Karikaturen mit dem Kohlenklau – ein Mann im Gangster-Outfit – werden in vielen Tageszeitungen veröffentlicht. Meist enden die kurzen Geschichten mit der Warnung: „Hier ist für ihn nichts mehr zu machen – Paß auf, jetzt sucht er andre Sachen!“ Später werden Szenen der Energieverschwendung ausgeführt und der Leser abschließend angesprochen: „Nun halt’ dir den Spiegel vor’s Gesicht – Bist du es oder bist du es nicht?“
Nicht ganz so poetisch sind die aktuellen Aufrufe des Bundeswirtschaftsministers, bei allen Heizungen einen hydraulischen Abgleich durchzuführen, um Gas zu sparen oder der Hinweis eines süddeutschen Ministerpräsidenten, sich mit Waschlappen abzureiben statt zu duschen .
1942 ist das letzte Weihnachtsfoto der Wagners. Ihr Weihnachtsbaum leuchtet mit der 1927 angeschafften elektrischen Lichterkette. Die Zuteilung an Wachskerzen ist in dem Jahr so knapp, dass sich viele Frauen in den Mütterschulen der NS-Frauenschaften daranmachen, aus mitgebrachten Wachsresten und Baumwollfäden in Kaperngläsern oder Aspirinröhren selbst Kerzen zu ziehen – so berichtet der „Berliner Lokalanzeiger“. „Gehen dem Einzelhandel im Winter die Kerzen aus?“, fragt nun am 3. Dezember 2022 die „Berliner Morgenpost“. Aus Furcht vor Blackouts würden viele Menschen jetzt Kerzen horten, im Handel würden sie knapp, heißt es da. Im Gegensatz zum Weihnachtsfest vor 80 Jahren ist aber wohl doch kein ernsthafter Engpass auf Dauer zu befürchten, beruhigt die Zeitung.
Die große Liebe oder davon geht die Welt nicht unter
1942 haben die Wagners den Film „Die große Liebe“ im Kino gesehen. „Davon geht die Welt nicht unter“, ist ein bekannter Schlager aus dem Streifen. Die Weihnachtsfotos der Wagners zeigen über mehr als vier Jahrzehnte das Leben einer kleinen Familie aus der Mittelschicht, die trotz aller Widrigkeiten Weihnachten zum Höhepunkt des Jahres macht. Das Fest ist der Anker in den stürmischen Zeiten, die sie erleben. Sie hatten Glück: Richard ist in einem Alter, das ihn bereits im Ersten Weltkrieg vor dem Wehrdienst bewahrt. Anna stirbt 1945 im Alter von 71 Jahren. Er folgt ihr 1950 mit 77 Jahren. Seither fotografieren sie sich, Katze Mietz und ihren Weihnachtsbaum im Himmelreich.
Weitere Informationen
Das Buch: „Deutsche Weihnacht – Ein Familienalbum 1900 bis 1945“ ist in der Nicolaischen Verlagsbuchhandlung Berlin erschienen. Es zeigt auf 85 Seiten die Weihnachtsfotos von Anna und Richard Wagner. Zusammengestellt und mit einem Text versehen wurde es von Birgit Jochens. Die Bilder gehören heute zur Sammlung des Museums Charlottenburg-Wilmersdorf in der Berliner Villa Oppenheim. ISBN 978-3875846034, Neupreis 14,90 Euro. Im Buchhandel könnte das Buch vergriffen sein, es ist allerdings antiquarisch leicht über verschiedene Portale für gebrauchte Bücher zu bekommen und dann meist sogar günstiger als eine ungebrauchte Ausgabe.
Das Museum: Seit 2012 präsentiert das Museum Charlottenburg-Wilmersdorf seine alltagsgeschichtliche Sammlung in der Berliner Villa Oppenheim. „Deutsche Weihnacht 1900 bis 1945“ ist als Wanderausstellung konzipiert und kann bei Interesse auch an anderen Orten gezeigt werden. Die Aufnahmen ermöglichen Einblick in Veränderungen und Zeitläufe, nicht nur hinsichtlich der Anzahl und Art der Weihnachtsgeschenke oder dem Schmuck der Tannenbäume, sondern auch in Bezug auf die sich wandelnde Kleidungsmode, Veränderungen der Wohnzimmereinrichtungen, oder dezente Hinweise auf zeitpolitisches Geschehen.
www.villa-oppenheim-berlin.de