Bahn-Tagebuch So wirbt die Bahn um Geräuschfetischisten

Ein Zug der Süd-Thüringen-Bahn am Ilmenauer Bahnhof. Foto: Danny Scheler-Stöhr

Das Auto stehen lassen und mit dem Deutschlandticket auf Arbeit pendeln. Unser Autor Danny Scheler-Stöhr ist zum Bahnfahrer geworden. Diesmal deckt er eine kuriose Marketingstrategie auf.

 
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Abkürzungen gibt es ja viele im Zugverkehr: ICE, IC, RE, RB, Bhf, DB, STB, EB etc. pp. Eine Abkürzung, die ich aus dem Eisenbahnwesen bisher noch nicht kannte, ist ASMR. Kennen Sie nicht? Nun, es ist eigentlich ganz einfach, auch wenn es kompliziert klingt. ASMR steht für Autonome sensorische Meridianreaktion.

Kurz, knapp und plump könnte man sagen: Wenn Ihnen einer abgeht, weil Ihnen jemand etwas ins Ohr flüstert, war es ASMR. Etwas fundierter ist da Wikipedia: Bei ASMR handelt es sich um das Wahrnehmen eines kribbelnden, angenehm empfundenen Gefühls auf der Haut – oft ähnlich erlebt wie sanfte elektrostatische Entladungen. Ausgelöst wird das Ganze etwa durch akustische Reize, zum Beispiel wenn jemand flüstert oder auf einer Oberfläche kratzt.

Das Ganze ist mittlerweile zu einem großen Trend im Internet geworden. Da gucken sich Millionen von Menschen Videos an, in denen meist eine jüngere Frau mit ihren Fingernägeln am Mikrofon entlang kratzt, mit Chipstüten raschelt oder ihren Zuschauern etwas ganz sanft zuflüstert. Auf die einen wirkt das dann beruhigend und hilft etwa beim Einschlafen. Andere hingegen kommen dabei so richtig in Fahrt, wenn Sie verstehen ...

Ein großartiger Marketingschachzug

Apropos Verkehr: Was das mit meinen Bahnreisen zu tun hat, fragen Sie sich nun? Ganz simpel: In den Marketingabteilungen der Eisenbahnunternehmen müssen sich cleverere Menschen Gedanken dazu gemacht haben, wie man das Zugfahren gerade für jüngere Menschen attraktiver gestalten kann.

Klar, da könnten pünktliche Züge, mehr Zugverbindungen oder generell mal eine Schiene in der Pampa – Pardon, im ländlichen Raum – ihren Anteil dazu beitragen. Aber das würde Geld kosten. Und das steckt die Bundesregierung derzeit lieber in die Bundeswehr – dann fahren künftig immerhin die Panzer pünktlich.

Es gibt nur ein paar kleine Unterschiede

Weil sie sich auf die Politik also nicht verlassen konnten, mussten die Marketingabteilungen selbst eine clevere Strategie suchen. Und sie wurden fündig. Ab sofort werden alle Zugfahrten als ASMR-Liveshows vermarktet. Das Beste dabei: Es kostet absolut nichts, weil man bestehende Strukturen nutzt. Gut, es gibt ein paar kleine Unterschiede: Im Zug kratzt niemand mit Fingernägeln übers Mikro, stattdessen klappert irgendein loses Bauteil rhythmisch mal laut, mal leise während der Fahrt. Statt melodisch mit einer Chipstüte zu rascheln, schmatzt mir der Sitznachbar ekstatisch mit seinem Döner im Ohr rum. Und anstatt mir aus einem Internetvideo ganz ruhig süße Botschaften zuzuraunen, flüstert mich der Zugbegleiter über die viel zu leise eingestellten Lautsprecher sanft in den Schlaf. Genial!

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