Vacha - Auf Einladung von Beate Dittmar, stellvertretende Schulleiterin des Vachaer Gymnasiums, stellte Heidemarie Puls ihr Buch "Schattenkinder hinter Torgauer Mauern" vor. In ihrer Lesung berichtete die Autorin teilweise mit den Tränen kämpfend, von ihrer traumatischen Kindheit in DDR-Kinderheimen, dem Jugendwerkhof Burg und dem geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Begleitet wurde sie zur Lesung von Manfred May und Peter Zorn. May arbeitete jahrelang mit der Landesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit zusammen und betreut heute die Opfer der Jugendwerkhöfe und Kinderheime der DDR. Peter Zorn ist in der Thüringer Landeszentrale für die Stasi-Unterlagen in Suhl tätig.

Die Autorin wurde 1957 in Neukalen geboren. Von der Mutter geschlagen und vernachlässigt und später vom Stiefvater sexuell missbraucht, versuchte sie mit elf Jahren das erste Mal, sich mit Tabletten zu vergiften. Nach der Einweisung in die Psychiatrie kam Heidemarie Puls ins Kinderheim. "Ja, ich stand nun da, wo ich bleiben sollte, bleiben durfte, bleiben musste, denn so recht wollte ich es nicht."

Sie unternahm mehrere Fluchtversuche, unter anderem wegen erneuter sexueller Übergriffe durch ältere Mitbewohner im Heim. Sie wurde immer wieder zurückgebracht und schließlich in ein Übergangsheim abgeschoben. Mit gerade mal 14 Jahren verlegte man sie in den Jugendwerkhof Burg, bei Magdeburg. Nach dem dritten Fluchtversuch kam sie von dort 16-jährig in den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, wo Prügel und Misshandlungen zu den "normalen" Erziehungsmethoden gehörten. "Nun war mir klar, wo ich bin. Ein Gefängnis für Kinder war dies hier. Stacheldraht, Gitter und ein großes graues Gebäude waren zunächst alles, was ich erblicken konnte", schilderte die Autorin. Als erstes wurden ihr die Haare geschoren. Angebliche Vergehen wurden mit Arrest bestraft. Ein erneuter Suizidversuch brachte sie in die gefürchtete Dunkelzelle, den sogenannten Fuchsbau. Das war ein etwa 1,30 x 1,30 Meter großes Kellerloch, in das die Jugendlichen geschoben wurden. Ausgestrecktes Liegen war darin nicht möglich. Danach war sie gebrochen. "In Torgau hat man das aus mir gemacht, was ich viele Jahre war. Ich habe funktioniert. Ich habe immer unter Angst gestanden, mein Leben lang", sagte Puls.

Ein Leben in Angst

Nach fünf Monaten Torgau wurde sie zurück in den Jugendwerkhof Burg geschickt. Wegen "guter Führung" durfte sie acht Monate vor ihrem 18. Geburtstag die Einrichtung verlassen. Allerdings wurde von ihr verlangt, über ihre Zeit in den Jugendwerkhöfen zu schweigen. Fast 30 Jahre gelang es Heidemarie Puls, die Ereignisse zu verdrängen, bis mit Anfang 40 der erneute Zusammenbruch kam. Die Erlebnisse der Kindheit und Jugend drängten wieder nach oben. Mit Unterstützung ihrer Familie gelang ihr die Bewältigung ihres Traumas. Um die schwere Zeit zu verarbeiten, riet ihr eine Freundin, die Erlebnisse aufzuschreiben. 2009 wurde das Buch im Selbstverlag herausgegeben.

"Ich lebe, es ist kein Traum. Mein kaputtes Leben hat einen Sinn bekommen", sagte Heidemarie Puls zum Abschluss. Mit dem Buch möchte sie anderen Heimkindern Mut machen, sich mit ihrem Schicksal auseinander zu setzen. Heute ist sie im Opferrat der Gedenkstätte Torgau und versucht bei Zeitzeugengesprächen mit Schulklassen ihre Geschichte aufzuarbeiten.

Nach der Lesung herrschte in der Vachaer Aula erst einmal betroffene Stille, bevor in der Diskussionsrunde die ersten Fragen gestellt wurden. So interessierten sich die Abiturienten unter anderem dafür, als was Torgau in der DDR galt. Dazu sagte Manfred May: "Über Torgau wurde in der DDR strengstes Stillschweigen bewahrt." Der Jugendwerkhof Torgau war eine sogenannte Disziplinierungsanstalt für Jugendliche und unterstand direkt dem Ministerium für Volksbildung. Die Einweisung wurde von der Ministerin persönlich unterschrieben. Über 4 000 Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren wurden vom 1. Mai 1964 bis zum 11. November 1989 eingewiesen. "Der Werkhof wurde 1989 Hals über Kopf geschlossen und teilweise rückgebaut", berichtete May. Heute gibt es dort eine normale Wohnanlage und die "Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau".

Zu den Gründen der Einweisung befragt, sagte May, dass die wenigsten Jugendlichen Straftaten begangen hatten. "Für straffällig gewordene Jugendliche gab es den Jungendstrafvollzug. Die Einweisungsgründe für den Jugendwerkhof waren meistens Schulbummelei oder erzieherische Gründe, bei Mädchen stand häufig notorische Herumtreiberei. Dieses waren jedoch meistens Fluchten infolge von Missbrauch. Hier wurden allerdings die Mädchen als die Schuldigen weggesperrt", so May. Dass das Leben von Heidemarie Puls kein Einzelschicksal war, bestätigte er. In Gesprächen mit ehemaligen Heimkindern werden immer wieder schreckliche Schicksale offenbart, berichtete er in der Gesprächsrunde. "Viele kommen mit ihrem Leben nicht klar, leben in psychiatrischen Einrichtungen oder benötigen Betreuer."

Eine ähnliche Projektstunde erlebten die Regelschüler der neunten Klasse der Rhön-Ulstertal-Regelschule Geisa. Die stellvertretende Direktorin der Point Alpha Stiftung Stefanie Bode und Kaplan Holger Heil hatten Heidemarie Puls zur Lesung geladen. Auch Vize-Direktor Jens Jahn nahm an der Stunde teil. as