Bad Salzungen Die kleine Linda braucht Hilfe

Linda ist ein niedliches, wildes, großes Baby. Auf den ersten Blick unterscheidet sie nur ihr Helm von anderen Kindern. Würden Außenstehende die Fünfjährige so nehmen, wie sie ist, wäre ihr Leben und das ihrer Familie einfacher.

 
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Dermbach - Dass Linda heute laufen und einige Worte sprechen kann, hat sie höchstwahrscheinlich ihrer Mama zu verdanken, die die erste - und lange Zeit einzige - war, die bemerkte, dass mit ihrer kleinen Tochter etwas nicht stimmt. "Linda ist seit der Geburt schwerstbehindert", sagt Silke Wiesner. Die Ärzte hätten ihr damals versichern wollen, es sei alles in Ordnung.

"Ich habe schon eine große Tochter, da weiß man ja, dass ein Kind nach der Geburt schreit - aber die Kleine hat sich nur geräuspert." Die 42-Jährige ist alleinerziehend, lebt mit ihren Töchtern Linda und Lilli (15) in Dermbach.

In den Wochen nach der Geburt habe sich Linda nicht so entwickelt, wie andere Kinder in ihrem Alter, habe beim Spazierenfahren im Wagen auf nichts reagiert, auch nicht die typischen Greifreflexe gehabt. Man habe ihr dennoch weiter versichert, Linda sei "ein ganz normales Kind" und sie sei wohl übersensibel. "Ich habe meinem Kinderarzt damals die Bude eingerannt", erzählt Silke Wiesner.

Als Linda fünf Monate alt war, sei sie mit ihr in der Physiotherapie gewesen, "dann musste ich ins SPZ (Sozialpädiatrisches Zentrum) nach Suhl". Aber sie sei weiter beruhigt worden. "Keiner hat wirklich gesagt, was los ist." Ihr Gefühl - "mit dem Kind stimmt was nicht" - blieb. Linda habe sich nicht auf den Bauch gerollt, konnte mit einem Dreivierteljahr noch nicht sitzen. Freunde hätten ihr dann geraten, sich eine zweite Meinung einzuholen. "Und das war mein größtes Glück, dass ich das gemacht habe."

Sie sei zu einer Kinderärztin nach Meiningen gefahren, die ihren Eindruck, Linda sei kein normales Kind, erstmals bestätigte. Sie habe ihr geraten, ans SPZ nach Erfurt zu wechseln - das habe sie getan und nicht bereut. "Ich fühle mich da gut aufgehoben mit meinem Kind." Zwei- bis dreimal im Jahr müsse sie dorthin, um zu berichten, wie es Linda geht. Außerdem würden die Befunde aller Ärzte ausgewertet und entschieden, "wo man einhaken muss und was man vielleicht besser machen kann".

Was Linda genau hat, könne ihr bis heute niemand sagen. "Fest steht, dass es eine komplexe Entwicklungsstörung ist", sagt Silke Wiesner. "Linda ist eigentlich ein großes Baby, geistig auf dem Stand von einem Jahr - und so verhält sie sich auch." Daran werde sich voraussichtlich nichts ändern.

Linda konnte erst mit drei Jahren laufen. "Die ganze Motorik ist beeinträchtigt, zuungunsten der linken Körperhälfte. Wenn es Linda schlecht geht, zieht sie die linke Seite hinterher, sie greift auch links nicht." Zudem wurde eine genetische Epilepsie festgestellt - diese äußere sich nicht in Form von Krämpfen, sondern "sie ist einfach fort, sie starrt, es fällt ihr auch das Essen aus dem Mund". Ein starkes Epileptikum habe die Anzahl der Anfälle reduziert, in der Regel komme es "nur noch ein-, zweimal pro Tag" vor. Aber das Medikament habe starke Nebenwirkungen. Deshalb muss Linda alle zwei, drei Wochen zur Blutbildkontrolle.

Linda leidet unter Wahrnehmungsstörungen: Sie fasse ins heiße Essen oder ins heiße Wasser - ohne zu zucken. "Das merkt sie gar nicht", sagt Silke Wiesner. Regelrecht angeekelt zucke sie hingegen zurück, wenn sie mit etwas Weichem, wie Gras oder Watte, in Berührung komme. "Das mag sie nicht." Linda liebe starke Reize, "wie barfuß über spitze Steine laufen". Kleidung lasse sie sich nur anziehen, wenn sie gebügelt ist - das gelte auch für Strümpfe. "Wer bügelt schon Socken?", fragt Silke Wiesner. "Ich mach's jetzt halt" - ansonsten sei "der ganze Tag im Eimer". Die Ergotherapeutin habe erklärt: "Wenn das nicht gebügelt ist, tut ihr das weh, in einer Weise, wie wir uns das nicht vorstellen können." Als etwas "ganz Schlimmes" empfinde Linda duschen, eincremen oder Zähneputzen, "alles was äußerlich ist" sei eine Tortur. "Aber durch die vielen Therapien weiß ich, was ich machen muss."

Linda trägt einen Helm, weil sie Gefahren nicht erkennt, weder Stufen noch andere Hindernisse wahrnimmt. "Sie fällt viel hin, sie ist ja auch mehr als flott unterwegs. Linda ist ein Wirbelwind", sagt Silke Wiesner lächelnd. Während des Gesprächs wuselt die Kleine die ganze Zeit durch die Wohnung - und ihre Schwester, immer darauf achtend, dass ihr nichts passiert, hinterher. Ihre große Tochter sei sehr eingebunden. "Wenn ich sie nicht hätte, wüsste ich nicht, wie ich es schaffen soll. Ich denke, es gibt nicht viele Jugendliche, die einer Fünfjährigen die Windeln wechseln würden", befindet die 42-Jährige.

Zum Wochenprogramm von Linda und ihrer Mutter gehören zweimal Ergotherapie, einmal Physiotherapie, einmal Logopädie und alle zwei bis drei Wochen ein Kinderarztbesuch. Alle vier Wochen steht der Osteopath im Terminkalender - und zwischendurch wird ein EEG in Erfurt gemacht.

Silke Wiesner ist Zahnarzthelferin, arbeitet 35 Stunden in der Woche. Auf die Frage, ob weniger Stunden für sie nicht einfacher wären, sagt sie: "Ich muss ja meine Kinder ernähren." Linda besucht die integrative Kindertagesstätte in Vacha. "Dort hat sie auch ihre Betreuerin für sich. Die erstreite ich mir gemeinsam mit dem Kindergarten alle halbe Jahr vom Amt neu."

Linda hat autistische Züge - daher sei es wichtig, bestimmte Regeln einzuhalten, beispielsweise sie jeden Abend zur selben Zeit ins Bett zu bringen - wenngleich sie nie durchschlafe. "Linda ist ganz unruhig. Wenn ich Glück habe, schläft sie vier Stunden, dann wird sie mobil." Aus Sicherheitsgründen hat sie ein spezielles Pflegebett. Rituale sind dem Kind wichtig: "Sie weiß Kleinigkeiten, wo keiner hin denkt. Zum Beispiel, wer wo am Tisch sitzt, das darf sich auch nicht mehr ändern. Oder wenn morgens ihr Teller nicht unter der Schüssel steht, dann isst sie nicht." Im Kindergarten sei es für sie ein Problem, neue Kinder zu akzeptieren.

"Linda spricht ihre eigene Sprache", kann nur zehn richtige Worte, sagt die Mutter. Vieles laufe über Zeichensprache. "Aber das Sprachverständnis haben wir jetzt ganz gut hingekriegt" - was die Kleine kurz darauf beweist: Sie weint plötzlich. Lilli fragt, ob sie ihren Nuckel möchte. Lindas Gesichtsausdruck hellt sich auf, sie sagt. "Ja". Seit sie ein Jahr alt war, war ihre Mutter jede Woche mit ihr bei einer Logopädin in Wutha-Farnroda.

Linda hat Gefühlsausbrüche, die sie nicht kontrollieren kann. "Sie schreit manchmal vier Stunden am Stück - und ich weiß nicht, warum." Dank der guten Zusammenarbeit mit den Kindergärtnerinnen und Therapeuten "habe ich es aber ganz gut im Griff", sagt ihre Mutter.

Was Silke Wiesner zu Hause leiste, sei "ein Fulltime-Job", sagt Conny Skradde. Sie hatte sich an die Redaktion gewandt, um ihrer Freundin zu helfen. "Sie ist ja auch noch berufstätig - das muss sie alles unter einen Hut kriegen, da reichen keine 24 Stunden am Tag." Es gebe viele Möglichkeiten, die dem schwerkranken Kind die Lebensqualität erhalten, vielleicht sogar verbessern könnten. "Aber es ist halt immer eine Frage der Kosten." Und auch Lilli, die als große Schwester zu Hause "genug gefordert ist", habe mal Wünsche. Sie besucht das Gymnasium, wo es auch Klassenfahrten gibt. "Aber 300, 400 Euro sind nicht einfach mal aus dem Ärmel zu schütteln, gerade wenn man Alleinverdiener ist", erklärt Conny Skradde. Deshalb bittet sie um Spenden für Linda.

"Ich habe viel über die Krankenkasse bekommen", sagt Silke Wiesner. Aber selbstverständlich werde nicht alles übernommen - und Hilfsmittel für Behinderte seien sehr teuer. "Zum Beispiel brauchen wir einen Deckenlift fürs Bad". Mit diesem werde das Kind in einem Tuch in die Wanne gehoben. Das würde die anstrengende Waschprozedur - Linda wiegt inzwischen 25 Kilo - erleichtern. Auch eine spezielle Decke, mit Gewichten, dass Linda ruhiger liegt, "sie braucht diese Enge", sei ihr empfohlen worden, Kosten: 99 Euro. Aus Therapeuten-Sicht sehr hilfreich für Linda wäre eine Hippotherapie (therapeutisches Reiten). Diese könnte dazu führen, dass sich ihre Wahrnehmung bessert. "Da kostet eine Reitstunde 45 Euro." Damit es etwas bringt, bräuchte Linda etliche Stunden. Die osteopathischen Behandlungen sind ebenfalls Privatleistung, die Silke Wiesner zahlen muss, "aber ich denke, dass es etwas bringt".

Auch ein Therapiehund sei ihr angeraten worden, Kosten: 40 000 Euro. Das komme aber ohnehin nicht in Frage, weil ein Hund zusätzlich Zeit beanspruchen würde. "Ich glaube, dass so eine Hippotherapie etwas Supertolles wäre", sagt Conny Skradde. Silke Wiesner stimmt zu: "Ja, das wäre mein Hauptanliegen, dass wir das machen könnten."

Linda soll diese Chance bekommen. Deshalb zahlt das Hilfswerk der Zeitungen Freies Wort und Südthüringer Zeitung über ein Quartal jeweils eine wöchentliche Hippo-Stunde. Spenden, mit denen dem schwerkranken Kind weiter geholfen werden kann, werden erbeten auf das Konto von "Freies Wort hilft e.V. - Miteinander Füreinander", Stichwort: "Linda".

Dass sie bereit war, ihre Familiengeschichte öffentlich zu erzählen, begründet Silke Wiesner mit einem weiteren Wunsch: Sie möchte, "mehr Aufklärung in der Bevölkerung", dass Behinderte nicht einfach stigmatisiert werden. Wenn sie mit Linda im Ort unterwegs sei, passiere es öfter, "dass Leute, die man schon lange kennt, die Straßenseite wechseln oder dass sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen" oder dass ihr Kind regelrecht angestarrt werde.

"Und ich denke nicht, dass es Linda alleine so geht." Im Schwimmbad, wenn sie Linda gewickelt und ihr den Helm wieder aufgesetzt habe, habe sie schon gehört, wie Kinder fragten: "Was ist mit dem Kind?" - und deren Eltern hätten nur betreten geschwiegen. In einem Café in Erfurt hätten die Gäste nicht gewollt, "dass wir uns da hinsetzen." Lilli habe mal ein Junge hinterhergerufen "du mit deiner scheißbehinderten Schwester". "Das hat ihr sehr wehgetan", sagt Silke Wiesner. Eine Behinderung könne jeden treffen, beispielsweise nach einem Unfall oder einem Schlaganfall, gibt sie zu bedenken. "Ich möchte kein Mitleid, das wäre fehl am Platze, einfach nur Verständnis dafür, dass Linda so ist, wie sie ist."

Ihr Freundeskreis sei, seit Linda da ist, "extrem geschrumpft". Aber die, die weiter zu ihr stünden, seien "echte Freunde, so wie Conny". Und selbstverständlich seien ihre Eltern für sie da. Viel Unterstützung erhalte sie vom Kinder- und Jugendhospizdienst. Einmal in der Woche komme ein ehrenamtlicher Helfer und passe auf Linda auf. Bei dem Dienst gebe es auch eine Nummer, "die man zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen kann" - um sich mal alles von der Seele zu reden.

"Es ist mein Traum, dass Linda vielleicht irgendwann mal allein den Toilettengang bewältigen und ausdrücken kann: Das möchte ich und das nicht - und dass sie einfach so genommen wird, wie sie ist, als liebenswerter Mensch. Wenn sie mich anstrahlt, ist alles andere vergessen", sagt Silke Wiesner. bf

Ich möchte einfach nur Verständnis dafür, dass Linda so ist, wie sie ist.

Silke Wiesner

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