Auswanderer-Geschichten Willi Geyer kehrt zurück nach Stützerbach

Vor drei Jahren unternahm der Theaterzug „Das letzte Kleinod“ mit seinem Stück „Spitzkehre“ auf der Strecke der Rennsteigbahn eine Reise in die Seele der Region. Mit dem neuen Stück „Amerikalinie“ thematisiert das Ensemble das Thema Auswanderung und fährt quer durch Deutschland. Erster Halt: Der Thüringer Wald.

 
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Plötzlich donnert die Stimme von Roland Klappstein zuerst durch den Güterwaggon, dann über das gesamte Bahnhofsareal. Vom Glas singt er, den Glasbläsern. Und natürlich von Stützerbach. Der Schauspieler mit Opern-Ausbildung spielt den Willi Geyer in der jüngsten Inszenierung „Amerikalinie“ des Eisenbahntheater „Das letzte Kleinod“, die am 15. August am Bahnhof Stützerbach Premiere feiert. Jens-Erwin Siemssen, Autor und Regisseur des Stücks, erzählt darin die Geschichte von sieben deutschen Auswanderern, die ihr Glück in den USA suchen .

Anlass ist das Ende einer Epoche in der Hafenstadt Bremerhaven an der Wesermündung. Dort wird nach 150 Jahren der Columbusbahnhof abgerissen, der über Jahrzehnte eine Art Drehkreuz für deutsche Auswanderer mit dem Ziel Amerika war. Aus ganz Deutschland kamen die Auswanderer mit dem Zug dort an und bestiegen dann ihre Schiffe. „Der Bahnhof hatte eine Bedeutung, wie sie heute etwa der Flughafen in Frankfurt hat“, sagt Siemssen. Mit dem Stück Amerikalinie trägt er die Geschichten der Menschen zusammen , die damals in der Wartehalle in Bremerhaven saßen. Mehr als zwei Jahre hat der Autor dafür recherchiert. Ist mehrfach in die USA gereist, um Interviews mit Zeitzeugen zu führen. Unterbrochen durch die Corona-Pandemie.

Vor drei Jahren schon entdeckt

Herausgekommen sind sieben Szenen, in denen die Schauspieler die Geschichten der Betroffenen erzählen, deren Schicksale für die Zuschauer erlebbar machen. Als Bühne dienen sieben große Güterwaggons, die derzeit am Bahnhof Stützerbach stehen. Etwas abseits steht auch der ozeanblaue Theater-Zug, der dem 20-köpfigen Ensemble als Unterkunft, Werkstatt, Aufenthaltsraum, Küche und Speisesaal dient.

Dass die Rundreise des Theaters ausgerechnet in Stützerbach beginnt, ist kein Zufall. Die Auswanderer-Geschichte des Stützerbacher Glasbläsers Willi Geyer ist eine der sieben Geschichten, die Siemssen in seinem neuen Stück erzählt. Aufmerksam wurde er auf dessen Lebensweg vor drei Jahren, als der Regisseur mit seinem Theater und dem Stück „Spitzkehre“ schon einmal im Thüringer Wald gastierte.

Damals schickte Siemssen Publikum und Schauspieler auf der Strecke der Rennsteig-Bahn von Ilmenau hinauf zum Bahnhof Rennsteig auf eine Reise in die Seele der Region. An den Bahnhöfen entlang der Strecke und manchmal auch einfach mitten im Wald hielt der mit Zuschauern besetzte Zug an und die Schauspieler spielten ihre Szenen. Schon damals ging es um das harte Leben der Glasbläser, um den Exporterfolg, den die Manebacher einst mit ihren Masken hatte, Das Ensemble und dutzende einheimische Laiendarsteller erzählten, wie es zu DDR-Zeiten war, wenn im Sommer und im Winter die Urlauber in der Region einfielen und praktisch jedes Zimmer, jede Kammer mit Feriengästen belegt war.

Es war damals eine Bahnfahrt, die vielen vor Augen führte, wie das damals war – und die manche verstehen ließ, warum die Menschen im Thüringer Wald so ticken, wie sie eben ticken. Bei den Recherchen für da damalige Inszenierung wurde Siemssen auf die Geschichte des Glasbläsers Willi Geyer aufmerksam, der seiner Mutter wohl um 1920 das Geld aus der gute Kaffeedose klaute, um die Zugfahrt nach Bremerhaven zu bezahlen.

In neun Minuten zeigt Klappstein seinen Zuschauern dann, was darauf folgte. Als Bühnenbild reichen ihm ein paar Glasröhren. Immer wieder singt er vom Alltag der Glasbläser im Thüringer Wald, erzählt, dass Geyer einfach keine wirtschaftliche Perspektive gesehen habe. Als Blinder Passagier schlich er sich in Bremerhaven auf den Dampfer, wurde entdeckt und musste den Rest der Überfahrt als Heizer arbeiten.

Klappstein spielt den Willi Geyer als den typischen amerikanischen Traum: Vom Tellerwäscher zum Millionär. In New York angekommen erweckt Klappstein beim Zuschauer die Illusion, Geyer übernachte auf einer Parkbank. Doch er schafft den Aufstieg, wird einer der größten Glasapparate-Hersteller und Händler der USA. Sein Handwerk, mit dem er in der Heimat keine Perspektive sah, macht ihn auf der anderen Seite des großen Teichs zu einem reichen Mann.

„Viele der Auswanderer-Geschichten, die wir erzählen, sind nach heutigen Maßstäben eigentlich Geschichten von Wirtschaftsflüchtlingen“, sagt Siemssen. Für ihn sei daher unverständlich, wenn es von vielen Menschen heute als verwerflich empfunden werde, wenn sich junge Menschen aus Syrien. Afghanistan oder Marokko aufmachen, um in Europa ein besseres Leben zu suchen.

Willi Geyer besucht auch später regelmäßig Stützerbach. „Der ganze Ort saß am Fenster, wenn der Willi mit seinem Mercedes vorfuhr“, erzählt Klappstein. Und der Sohn des kleinen Rennsteig-Ortes sei aufgetreten, wie das Klischee des reichen Onkels aus Amerika. „Mein Pool ist so groß wie euer Naturbad. Mein Grundstück in den USA ist so groß wie ganz Stützerbach“, ruft Klappstein als Willi Geyer den Menschen zu. Für den Schauspieler selbst ist das Engagement bei der Amerikalinie auch eine Art Heimkehr. „Ich war drei Jahre am Meininger Theater“, erzählt er. Erfahrung als Glasbläser habe er aber nur aus der Schulzeit. Er erinnere sich dunkel, dass er in der ersten Klasse einmal Glas geblasen habe. Auf die Rolle des Willi Geyer habe er sich mit Besuchen im Glasmuseum und bei Unternehmen in der Region vorbereitet. „es geht ja nicht darum, dass wir alles ganz genau wiedergeben, sondern darum, den Zuschauer einen Eindruck vom Glasbläser zu vermitteln.

Dieses Mal ohne Laien-Darsteller

Eine kleine historische Ungenauigkeit verpasst Siemssen allerdings der Szene in Stützerbach. Er lässt Geyer erst nach dem Zweiten Weltkrieg auswandern. Klappstein erzählt daher die Ereignisse im Ort, der zuerst von den Amerikanern und dann von den Russen besetzt wurde. „Diese Ereignisse sind überall im Ort noch so präsent, dass wir uns entschlossen haben, die Geschichte um ein paar Jahrzehnte zu verschieben“, erklärt der Schauspieler.

Laienschauspieler wirken diese Mal nicht mit bei der Inszenierung des Theaterzuges. „Wir haben versucht, wieder einige Mitwirkende vor Ort zu finden, doch die Kirmes macht uns einen Strich durch die Rechnung“, erzählt Dramaturgin Ulrike Marski. Vor drei Jahren hatten unter anderem „Die Moosbacher“ und die Blaskapelle Stützerbach zur passenden musikalischen Begleitung der „Spitzkehre“ beigetragen.

Dieses Mal stehen die Schauspieler meistens allein auf der Bühne. Mit minimalistischen Bühnenbildern erschaffen sie die Welt ihrer Auswanderer. Das ist bei der Auswanderer-Geschichte einer Frau aus Niederbayern ein alter Bauernschrank. Sandra Macrander spielt das Schicksal der jungen Frau sehr eindringlich, die miterleben musste, wie ihr Vater, ein Holzhändler mit vielen jüdischen Kunden, eines Abends einfach von den Nazis erschossen wurde. Der Rest der Familie kam ins KZ. „Warum, das weiß ich bis heute nicht“, lässt Macrander ihre Figur sagen, die tatsächlich noch heute in einem deutschen Viertel in New York lebt.

Einen Waggon weiter ist ein Segelflieger aufgebaut. Daria Gabriel schildert die Begeisterung eines Jugendlichen, der miterlebt, wie die Nazis auf der Wasserkuppe ihre Piloten ausbilden. Am Ende steht für den Jungen fest: „Ich werde Pilot.“ Das Vorbild für die Figur lebe in den USA, erzählt Siemssen – und haber bis heute einen sehr verklärten Blick auf die Nazi-Zeit.

Sieben Szenen erleben die Zuschauer an drei Abenden ab dem 15. August am Bahnhof Stützerbach. Etwa neun Minuten dauert jede. Die Zuschauer wandern von Waggon zu Waggon, können auf kleinen Sitzreihen Platz nehmen. Die Schauspieler müssen ihre Szene an jedem Abend sieben Mal spielen. Nach Der Station in Stützerbach fährt der Theater-Zug weiter nach Finsterwalde. Es folgen Frankfurt (Oder, Fürstenwalde, Berlin-Spandau, Stendal, Halberstadt, Salzwedel, Uelzen, Soltau und Osterholz-Scharmbeck. An jedem dieser Orte wird auch die Geschichte des Willi Geyer aus Stützerbach erzählt. Das Ziel der Fahrt ist Bremerhaven. Vom 12. 30 Oktober spielt die „Amerikalinie“ dann im alten Columbusbahnhof – bevor dieser abgerissen wird und damit ein Stück Geschichte der Amerikalinie verschwindet. Fürs Theater hat die Linie ihren Ausgang nun noch einmal in Stützerbach.

Tickets für die Aufführungen der „Amerikalinie“ gibt es im Internet:

www.das-letzte-kleinod.de

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