Atomunglück Die Katastrophe, die keine sein durfte

Genau 35 Jahre ist der Reaktorunfall von Tschernobyl her. Das war die bisher folgenschwerste Katastrophe in der zivilen Nutzung der Kernkraft. Noch immer sind die Folgen für Mensch und Natur nicht ausgestanden – auch nicht in Südthüringen.

 
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Suhl - Es war die Nacht vom Freitag, 25. April, auf Samstag, 26. April 1986, als im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl der Gau, der Größte anzunehmende Unfall, Realität wird. In Block 4 des Kraftwerks kommt es zu einer vollständigen Kernschmelze. Durch die daraus folgenden Explosionen wird radioaktives Material in die Atmosphäre gestoßen. In der Folge werden weite Teile Europas verseucht. Cäsium-137 zieht mit Wolken nach Skandinavien und Mittel- und Westeuropa und regnet dort ab. Während jenseits des Eisernen Vorhangs – etwa in der Pfalz oder im Süden Bayerns – das Gemüse auf den Feldern untergepflügt und vernichtet wird, sind in der diesseits der Grenze plötzlich die Gemüseregale voll. Es gibt frische Gurken, Tomaten und sogar die sonst nur alle Jubeljahre erhältlichen ungarischen Paprika. Was der Westen verschmäht, landet nun hier auf den Tellern, auch in den Betriebskantinen und Schulspeisungen.

Während sich in der Bundesrepublik die Meldungen über den Atomunfall überschlagen, Menschen in Panik Jodtabletten kaufen und der Nahrungsmittelmarkt regelrecht zusammenbricht, passiert in der DDR erst einmal – nichts. Erst am 30. April, es ist bereits der Mittwoch der Folgewoche, wird der Unfall in Freies Wort thematisiert. Auf Seite 1, die am Vortag des 1. Mai mit entsprechenden Parolen („Heraus zur machtvollen Kampfdemonstration!“) aufmacht, findet sich eine Notiz „Zur Havarie in ukrainischem Kernkraftwerk“ – es handelt sich dabei um eine Verlautbarung des Ministerrates der UdSSR. Auffällig ist, dass die damalige Bezirkszeitung nicht von einem sowjetischen, sondern von einem ukrainischen Kraftwerk schreibt: „Bei der Havarie in dem 130 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew gelegenen Kernkraftwerk Tschernobyl sind zwei Menschen ums Leben gekommen. Wie der Ministerrat der UdSSR am Dienstag informierte, sind sind dringende Maßnahmen zur Beseitigung der Folgen der Havarie eingeleitet worden.“ Die Notiz wird auf Seite 2 der Zeitung noch mit ganzen zehn Zeilen fortgesetzt: „Die Strahlensituation im Kraftwerk und seiner Umgebung ist stabilisiert worden. Den betroffenen wird die erforderliche ärztliche Hilfe erwiesen. Aus der Kraftwerkssiedlung und drei umliegenden Ortschaften ist die Bevölkerung evakuiert worden. Die Radioaktivität im KKW Tschernobyl und Umgebung wird ständig kontrolliert.“ Am Freitag, 2. Mai, also fast eine Woche nach dem Gau, ist dann auf Seite 5 der Tageszeitung zu lesen: „In der DDR keine Gefährdung durch Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl“, die Unterzeile des Beitrages nimmt seinen Inhalt voraus: „Hoher Sicherheitsstandard bei allen Reaktoren/ Westliche Panikmache soll von Friedensinitiativen ablenken“. Am 3. Mai schließlich gibt es mehrer kleine Meldungen: Unter der Zeile „Stabilisierung auf niedrigem Niveau“ steht, dass die Messwerte in der DDR keine gesundheitlichen Gefahren belegten. darunter folgen Meldungen, denen zufolge die Sowjetunion die UNO-Vollversammlung über den Reaktorunfall informiert habe, dass auch für die Bevölkerung der BRD keine Gefahr bestünde und schließlich heißt es: „Bonner Experten: Jodtabletten haben keinen Nutzeffekt.“

Die Realitäten freilich sehen damals ganz anders aus: In der Folge der Reaktor-Katastrophe werden in der Ukraine und Weißrussland, dem heutigen Belarus, ganze Regionen evakuiert. Soldaten und Techniker, die im Wortsinn ins Feuer geschickt werden, sterben. Es gibt Tausende Tote und Verletzte. Radioaktiv verstrahlte Landstriche um die Atomruine werden gesperrt und 120 000 Menschen zwangsumgesiedelt. Bis heute leiden vor allem Kinder an den Folgen des Geschehenen.

Auch wenn sich der Sarkophag, der den Unglücksreaktor umgibt und inzwischen weiter überbaut wurde, bereits zum makabren Touristenziel für Abenteurer mit Kleingeld, Wagemut und Geigerzähler entwickelt hat: Tschernobyl ist ein Trauma, das noch längst nicht bewältigt ist.

Doch auch in der Natur hat Tschernobyl seine Spuren hinterlassen. Und das im Wortsinn. Das Cäsium-137, das einige Tage nach dem Atomunfall niederregnete, ist bis heute im Boden nachweisbar. Mit einer Halbwertszeit von 30,2 Jahren hat sich die Belastung freilich verringert. Die Halbwertszeit beschreibt jene Zeitspanne, die ein Element benötigt, bis es nur noch die Hälfte der ursprünglichen Strahlung abgibt.

In der Landwirtschaft spiele die Kontamination keine Rolle, heißt es vom Bundesamt für Strahlenschutz: „Dass die Nahrungsmittel des Waldes wesentlich höher belastet sein können als landwirtschaftliche Erzeugnisse, liegt an der unterschiedlichen Beschaffenheit von Waldböden und landwirtschaftlich genutzten Böden.“

Bestimmte Pilz- und Wildarten sind in einigen Gegenden Deutschlands nämlich durch die Reaktorkatastrophe noch immer stark mit dem sogenannten Radiocäsium, belastet. Der Süden Deutschlands sind davon besonders betroffen. Dezernentin Isabell Figula vom Thüringer Landesamt für Verbraucherschutz weiß: „Besonders in Regionen der Landkreise Schmalkalden-Meiningen, Gotha, Hildburghausen, Greiz, Sonneberg, Saalfeld-Rudolstadt, Suhl sowie im Ilmkreis sind Belastungen nach wie vor festzustellen.“ Sie ergänzt aber: „Stichprobenartig wurden aus Thüringer Waldgebieten in den letzten Jahren Pilze hinsichtlich ihrer radiometrischen Belastung mit Cs-134 und Cs-137 untersucht. Hierbei wurde der Grenzwert der kumulierten Radioaktivität (...) in keinem Fall überschritten.“

Frank Herrmann, Geschäftsführer des Thüringer Landesjagdverbandes, ist es eigentlich leid, alle Jahre wieder auf die Thematik angesprochen zu werden. „In Thüringen betrifft die Belastung in erster Linie das Schwarzwild, das in einigen gebieten in Kammlagen des Thüringer Waldes erlegt wird.“ Wildschweine suchen im Gegensatz zu anderen Wildtieren einen Großteil ihrer Nahrung im Boden und durchwühlen ihn dafür. Vor allem unterirdisch wachsende Pilze sind ganz nach ihrem Geschmack. Und in einigen Pilzarten wie verschiedenen Schnecklingen, aber auch den für den menschlichen Verzehr durchaus beliebten Maronenröhrlingen oder Pfifferlingen konzentriert sich Radiocäsium.

„Bei Wildbret aus Gebieten, in denen eine erhöhte Kontamination festgestellt wurde, wird jedes Stück getestet“, sagt Frank Herrmann. Vier zertifizierte Teststellen gibt es dafür im Freistaat, unter anderem eine in Zella-Mehlis. „Jede Grenzwertüberschreitung führt sofort dazu, dass das Fleisch verworfen wird“, berichtet er weiter. Mit den Messungen wird verhindert, dass belastetes Fleisch in den Handel gerät. Die kontaminierten Stücke werden fachgerecht entsorgt. Das Landesamt für Verbraucherschutz teilt mit „Insgesamt werden so pro Jahr fast 1000 Schwarzwildproben untersucht, wovon etwa zehn Prozent aufgrund von Überschreitungen des Grenzwertes verworfen werden mussten. Eine Änderung dieser Quote konnte in den letzten Jahren nicht beobachtet werden.“

In Deutschland ist es nicht erlaubt, Lebensmittel mit einem Radiocäsiumgehalt von mehr als 600 Becquerel pro Kilogramm in den Handel zu bringen. Für den Eigenverzehr gilt diese Beschränkung zwar nicht: „Aber kein Jäger wird so dumm sein, belastetes Fleisch zu verzehren.“, sagt Herrmann. Es gebe inzwischen im Freistaat allerdings nur noch vereinzelt Schwarzwild, das eine deutlich erhöhte Cäsiumbelastung aufweise. Wenn Wildbret wegen dieser Belastung vernichtet werden muss, kommt der Bund für die Entschädigung auf, Jäger können beim Bundesverwaltungsamt eine Ausgleichszahlung beantragen.

Jagdverbands-Chef Frank Herrmann stellt klar: „Wildbret, das von Jägern oder im Wildhandel angeboten wird, ist ohne jegliche Einschränkungen verzehrfähig.“

Das Bundesamt für Strahlenschutz unterstreicht dies und rät: Wenn Wildbret oder wild wachsende Speisepilze in üblichen Mengen verzehrt würden, sei die zusätzliche Strahlenbelastung zwar vergleichsweise gering, aber vermeidbar. Wer seine persönliche Belastung verringern möchte, sollte in höher belasteten Gebieten auf den Genuss selbst erlegten Wildes und selbst gesammelter Pilze verzichten.

In Thüringen, wo es vielerorts eine relativ hohe natürliche radioaktive Belastung gibt, ist die aus dem Kraftwerk Tschernobyl stammende Kontamination deutlich geringer als etwa in teilen Bayerns. Das Bundesamt blickt voraus: „Radiocäsium wandert nur langsam in tiefere Schichten des Waldbodens. Aufgrund der Tiefenverlagerung und des radioaktiven Zerfalls werden die Aktivitätswerte in Pilzen und Wildbret in den nächsten Jahren allmählich zurückgehen.“

Seit Jahren engagieren sich in der Region einige Initiativen, Vereine, Privatpersonen und Institutionen insbesondere für Kinder, die noch immer unter den Folgen der Katastrophe zu leiden haben. So gab bzw. gibt es Ferienaufenthalte für junge Menschen aus der stark betroffenen Region Kursk, die im Landkreis Hildburghausen angeboten werden. In der Rhön gibt es ebenso wie im Kreis Sonneberg länderübergreifende Initiativen, die betroffenen Kindern, Jugendlichen und Studenten sorgenlose Ferienaufenthalte ermöglichen.

Im Kreis Hildburghausen beispielsweise ist Landrat Thomas Müller auch ganz persönlich im Förderverein Kinderheime der Region Kursk aktiv. Alles begann, als im August 2001 Einladung die damalige Kanzlersgattin Hiltrud Schröder im Berufsschulzentrum Hildburghausen einen Vortrag „Die fatalen Folgen des Reaktor-Unfalls in Tschernobyl“ hielt und zu dem Schluss kam, dass die beste Hilfe die ist, die vor Ort geleistet werden kann. Schon zuvor half der Landrat seit Jahren Kindern, die unter den Spätfolgen der Katastrophe zu leiden hatten. Vor nun fast 20 Jahren wurde der Förderverein Kinderheime der Region Kursk in das Vereinsregister eingetragen. Spendenaufrufe und Sammelaktionen wurden gestartet, die Resonanz in der Bevölkerung war überwältigend. Vier Bildungseinrichtungen, das Hildburghäuser Bildungszentrum, die Stiftung Rehabilitationszentrum Thüringer Wald Schleusingen, der Bildungsträger Meiningen und das Südthüringer Bildungszentrum Holz in Kloster Veßra., halfen mit Möbeln und Umbauhilfen für Kinderheime, Schulen und Internate. Seit 2014 sind regelmäßig Kursker Studenten zu Gast in Hildburghausen, Schleusingen und Meiningen.

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