Ahrtal nach der Flut „Meine Wurzeln sind ausgerissen“

Fünf Monate nach der Katastrophe sind nicht nur in der Landschaft die Wunden immer noch unübersehbar. Menschen, denen die Flut alles nahm, fragen sich: Habe ich hier noch eine Zukunft?

Es ist wieder einer dieser Tage im November, an denen bei Hans-Jürgen Meyer der Frust durchbricht. Er hält sich gar nicht erst mit einer langen oder kurzen Vorrede auf, als er auf Bernd Freytag zukommt. „Ich hab‘ die Schnauze voll, ich will einfach weg von hier“, ruft er Freytag zu, da ist der Mann, der in seinem roten Pullover nicht zu übersehen ist, noch mehr als zehn Meter von seinem Nachbarn entfernt. „Aber ich weiß nicht wohin.“ Inzwischen ist er bis auf zwei, drei Meter an Freytag herangetreten. Dann setzt er nach: „Du hast den größten Fehler Deines Lebens gemacht, Du hättest in Thüringen bleiben sollen.“

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Die beiden Männer wohnen seit Jahren Haus an Haus. Meyer lebt seit Jahrzehnten in Bad Bodendorf, einem Ortsteil von Sinzig, direkt an der Ahr gelegen, unweit der Stelle, wo der kleine Fluss in den großen Rhein mündet. Freytag ist 2016 aus Suhl nach Bad Bodendorf gezogen. Seit der Flutkatastrophe an der Ahr Mitte Juli muss man sagen: Das überschwemmte Haus des einen steht neben dem überschwemmten Haus des anderen.

Was Meyer an diesem Tag so zu schaffen macht und zu diesem Frustausbruch führt, ist sein Rücken. An einem besseren Tag hatte er voller Tatendrang versucht, irgendetwas in seinem in weiten Teilen entkernten Haus zu heben. Es war für den Über-70-Jährigen alleine zu schwer. Dazu kommt, dass im Ahrtal nun immer deutlicher wird, wie langwierig der Wiederaufbau ist. Der ganze Papierkram, sagt Meyer, belaste ihn schwer. „Wenn meine Tochter nicht wäre…“

Neben all den vielen, ermutigenden und hoffnungsvollen Facetten, die das Leben im Ahrtal etwa drei Monate nach der Flut ausmachen, gibt es deshalb auch das: Menschen, die weg wollen aus der Region, um ihr Leben woanders neu zu beginnen; wenn sie es denn können. Soweit sich das abschätzten lässt, sind sie zwar eine Minderheit unter den Ahrtalbewohnern. Die übergroße Mehrheit will dort wieder anfangen. Doch es gibt eben auch sie.

Gehen wollen – wenn sie denn können –, erzählen sie im Ahrtal, vor allem Menschen, die erst vor ein paar Jahren in die Region gezogen sind. Was es wichtig macht zu erwähnen, dass der zugezogene Freytag dort bleiben will. „Wir haben hier Freunde – und die Kinder“, sagt er. Und gehen wollen manche, die während der Flut nicht viel mehr retten konnten als das, was sie am Leibe trugen, als die Retter sie aus ihren überfluteten Häusern holten.

Zu Letzteren gehört Leo Kraus, der in Rech und Mayschoß insgesamt drei Häuser besaß. Es waren Immobilien, die innerhalb seiner Familie weitergegeben worden waren. Darunter war sein Elternhaus ebenso wie das Haus seiner Großmutter. Übrig geblieben davon ist: Nichts. Wenn Kraus nun in Rech steht, an der Stelle, wo zwei der Häuser standen und wo heute nur noch eine breite Erdrampe direkt in den Fluss führt, dann ist er in einem für Außenstehende kaum zu erfassenden, widerstreitenden Wirrwarr der Gefühle gefangen. „Ich kann hier stehen und das macht mir gar nichts“, sagt er. „Die Sache ist für mich erledigt.“

Das klingt viel kälter, als es gemeint ist. Denn nur Minuten zuvor hatte er gesagt: „Meine Wurzeln sind ausgerissen.“ Er könne es unter diesen Umständen nicht ertragen, an die Ahr zurückzukehren. „Als der Hubschrauber mich rausgezogen hat, wusste ich, das war es.“ Beinahe hätte er seine Frau in der Flut verloren. Eine andere Frau, die später nur noch tot geborgen werden konnte, sah er ins Wasser stürzen. „Ich hab‘ noch mit der Taschenlampe über das Wasser geleuchtet, da war aber nichts mehr.“

Der Frust und die Wut, die er heute empfindet, sagt Kraus, hätten deshalb nichts mit dem Wiederaufbau zu tun. Damit dass der nur langsam vorkommt. Nicht einmal damit, dass er nun im Alter von 68 Jahren in Boppard in der Nähe von Koblenz noch einmal ganz von vorne anfangen muss. Seine Wut, die Trauer unmöglich mache, richte sich gegen die, die die Menschen an der Ahr in der Flutnacht nicht rechtzeitig gewarnt hätten, sagt er. Und gegen die, die in der Vergangenheit nichts gegen den Klimawandel getan hätten.

Immerhin, freilich: Meyer und Kraus und auch Freytag machen weiter. Oder besser: Fangen neu an. Obwohl ihre Jugend schon lange zurück liegt. Wenn nicht an der Ahr, dann an einem anderen Ort. Bemerkenswert ist das, weil es auch zu den vielen Facetten der Realität an der Ahr nach der Jahrhundertflut gehört, dass manche in der Region erzählen:,Einige Flutopfer hätten sich inzwischen das Leben genommen. Sie sind für immer gegangen.

WIE UNSERE LESER HELFEN:

281 370 Euro haben Südthüringer Zeitungsleser für die Flutopfer gespendet. Die Hilfe für das Ahrtal war die zweitgrößte Spendenaktion, die „Freies Wort hilft“ je in seiner Geschichte organisiert hat. Seit August sind wir regelmäßig in den Dörfern vor Ort und berichten, wohin die Unterstützung unserer Leser fließt. Jeder Euro kommt direkt an. Der Vereinsvorstand hat die Begünstigten in Abstimmung mit Bürgermeistern und Helfern vor Ort sorgfältig ausgewählt.

157 000 Euro gingen an 66 Familien und Einzelpersonen in Rech, je nach Notlage wurden zwischen 500 und 8000 Euro ausgezahlt.

Noch kann gespendet werden:

Kontoverbindung: Freies Wort hilft, DE39 8405 0000 1705 017 017,

Verwendungszweck „Flut 2021“

63 000 Euro wurden an insgesamt 30 Familien in Bad Bodendorf und Sinzig ausgezahlt.

23 000 Euro erhielten zehn Betroffene in Dernau, Mayschoss und Altenahr.

10  000 Euro bekommt der zerstörte, von den Bürgern selbst organisierte Tierpark in Bad Bodendorf, sobald der Wiederaufbau startet.

28  370 Euro sind noch übrig, um Anfang nächsten Jahres denen zu helfen, die weiterhin Unterstützung brauchen.