Zarah und Mehdi können nicht glauben, dass „ein Tag und eine Nacht“ ausgereicht haben, um das Land 20 Jahre zurückzuversetzen. Ihre Schwester Fatima und ihr Mann seien tieftraurig, „dass alles, was sie getan und erreicht hatten, umsonst war“.
Von der schnellen Eroberung des Landes und der Hauptstadt war auch ihre Familie überrascht worden. „Ohne etwas dagegen zu unternehmen, hat man den Taliban die Stadt überlassen. Wo kamen die vielen Taliban auf einmal her? Wo hatten sie sich versteckt?“, fragt Zarah und schüttelt dabei den Kopf. So viel Blut sei in den letzten Jahren geflossen, gerade auch in dem Stadtviertel, in dem Zarahs Familie lebt. Sie gehören zum Stamm der Sadat, sind Schiiten, die Taliban Sunniten. Das sei der Hauptgrund für die Auseinandersetzung. Es sei kein Religions-, aber ein Völkerkrieg.
„Es muss doch aber immer darum gehen, dass man zuerst Mensch ist. Dann kann man miteinander über alles reden, egal welchem Volk man angehört.“ Die Regierung aber sei korrupt, der Präsident habe wichtige Ämter an seine Familie vergeben, das Staatsgeld ins Ausland gebracht und „das Land an die Taliban verkauft“. Er gehöre dem Volk der Paschtunen an, das immer die Macht in Afghanistan hatte. „Der Präsident hat gesagt, dass der Taliban sein Bruder ist. Ein Bruder, den man zufriedenstellen muss“, berichtet Zahra Mousavi entsetzt.
Es sei falsch gewesen, dass die ausländischen Streitkräfte das Land verlassen hätten, ohne dass zuvor eine Wahl stattgefunden hatte. Es fehle den Afghanen eine gemeinsame Identität. Eine Regierung, in der alle Völker vertreten wären, hätte vielleicht eine Chance gehabt, mutmaßt die ehemalige Journalistin, die in Schmalkalden in einer Glastürenvertriebsfirma angestellt und dort sehr zufrieden ist.
Zarah und Jawid sind als politische Flüchtlinge anerkannt, haben ein dauerhaftes Visum in Deutschland bekommen. Nun droht ihren Eltern und ihrer Schwester der Tod. Sie hatten zuvor schon mehrfach in Kabul die Wohnung gewechselt, wechseln müssen, weil sie bedroht wurden wie Zahra und ihr Bruder.
„Wir wissen nicht, was nun wird“, sagt Zahra. Ihr Bruder, der bei der Volkshochschule Schmalkalden-Meiningen arbeitet, und sie würden für die Eltern bürgen, bestätigen, dass sie den Unterhalt für Eltern und Schwester übernehmen, dass diese nicht dem deutschen Staat auf der Tasche lägen, wenn man sie herkommen lasse.
„Wir haben noch etwa zehn Tage Zeit“, stellt Zarah fest. Dann läuft das Touristenvisum im Iran ab. Ihr Mann Mehdi, der im September einen Sprachkurs an der VHS beginnt und danach eine Ausbildung machen möchte, verfolgt die Unterhaltung. Er schenkt Tee nach, während es draußen, was der Blick in den Innenhof verrät, dunkel geworden ist. Dann sagt er: „Sie können nicht zurück nach Kabul.“