Afghanistan/Schmalkalden Eine Familie auf der Flucht

2015 kam Zahra Mousavi mit der Familie ihres Bruders Jawid mit einem Boot über das Mittelmeer und dann zu Fuß nach Deutschland. Die afghanische Familie hat sich in Schmalkalden eingelebt. Die Bilder aus der Heimat schockieren die 28-Jährige. Zurzeit sind ihre Eltern, die in Kabul leben, im Urlaub im Iran. Sie wollen nicht zurück.

 
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Maryam (links) ist 24 Jahre und nicht verheiratet. Um sie hat Zahra die größte Angst, sollte sie zurück nach Kabul müssen. Aber auch ihre Eltern Safora und Mohammad sind in der Heimat nicht mehr sicher. Zahras Bruder Jawid versucht in Teheran, einen Ausreise von Eltern und Schwester über die deutsche Botschaft zu organisieren. Jawid lebt mit seiner Familie, wie Zahra, in Schmalkalden. Er arbeitet an der Volkshochschule Schmalkalden-Meiningen. Foto: /privat

Schmalkalden - Zarah Mousavi sitzt in ihrer kleinen Küche in der Wohnung in der Schmalkalder Innenstadt. Durch das Fenster, das zum Innenhof geht, kommt nur wenig Licht an diesem trüben Donnerstagabend im August. Es ist kalt. Nur der Tee, den ihr Mann Mehdi reicht, wärmt.

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Zahra, damals noch Hejazi, ist 2015 von Kabul nach Deutschland geflüchtet. Mit ihrem Bruder Jawid, der Schwägerin und der kleinen Nichte über den Iran, die Türkei, mit dem Boot nach Griechenland und dann zu Fuß durch Südeuropa. Der Name ihres Bruders stand auf einer Liste, er sollte abgeholt werden. Jawid Hejazi war an der Universität Kabul tätig, Zahra arbeitete als Journalistin.

In Schmalkalden sind die vier heimisch geworden. Vor fünf Jahren kam Zahras Neffe Josef im Schmalkalder Klinikum zur Welt, kurz nachdem dort die Entbindungsstation geschlossen worden war. „Er hatte es so eilig mitten in der Nacht, da konnte meine Schwägerin nicht noch in eine andere Klinik fahren“, erzählt die 28-Jährige in fließendem Deutsch und lacht.

Die Familie traf sich nach der Flucht im Iran. Dort machte man mit Eltern und Schwester Urlaub. Zarah lernte im Iran Mehdi kennen, dessen Familie auch aus Afghanistan stammt. Die beiden heirateten im März 2019 in Teheran. Am 15. Februar dieses Jahres konnte sie ihn endlich in Schmalkalden in die Arme nehmen. Über die deutsche Botschaft in Teheran bekam Mehdi Mousavi ein Visum, Zarah bürgte für ihn, bestätigte, für den Unterhalt ihres Mannes aufzukommen. „Ich weiß ja, wofür ich es mache“, sagt sie und schaut ihrem Mann in die Augen. Die Liebe ist groß und wird bald noch größer: Zarah erwartet ein Kind.

Alle Hoffnung setzt Zarah Mousavi in diesen Tagen wieder in die deutsche Botschaft in Teheran. Ihr Bruder Jawid ist mit Familie gerade im Iran. Er verbringt dort den Urlaub mit seinen Eltern und Schwester Maryam, die aus Kabul angereist sind und die er zweieinhalb Jahre nicht gesehen hatte. Anfang September wollen die vier Schmalkalder zurückfliegen. „Wenn es irgendwie möglich ist mit meinen Eltern und meiner Schwester“, sagt Zarah. Denn mitten im Urlaub sieht die Familie, was in Kabul passiert: Die Taliban nehmen die Hauptstadt ein, Menschen flüchten zum Flughafen, wollen das Land verlassen. Vor allem Menschen, die den Tod fürchten müssen in einem von den Taliban beherrschten Land.

Das Touristenvisum von Eltern und Schwester will der Iran aber nicht verlängern, hat ihr Vater auf Nachfrage erfahren. „Sie haben Angst, dass viele Afghanen bleiben und noch viel mehr kommen.“ Die deutsche Botschaft ist nur per Mail erreichbar. Jawid versucht vor Ort, Kontakt aufzunehmen.

Doch nicht nur um die Eltern und Schwester Maryam bangen Zarah und Mehdi. Ihre zweite Schwester Fatima ist mit Mann und zwei kleinen Kindern vor zwei Wochen nach Tadschikistan geflüchtet. „Sie haben ihr Geld genommen, Haus, Auto und alles andere zurückgelassen und sind mit dem Flugzeug weg“, berichtet Zahra. Seitdem leben sie in einem Hotel, das Geld wird jeden Tag weniger. Fatima Alavi arbeitete für deutsche und amerikanische Organisationen und die Vereinten Nationen als Frauenrechtlerin. Schwager Sayed arbeitete für eine japanische Zeitung und für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), einer Organisation der Entwicklungszusammenarbeit im Auftrag verschiedener Bundesministerien. „Fatima wollte nicht weg. Aber die Familie hat sie gedrängt. Ihr gesagt, dass sie keine Chance hat, wenn die Taliban kommen. Denn sie werden erfahren, für wen sie gearbeitet haben.

Einen Fernseher haben die Mousavis nicht, sie telefonieren mit der Familie oder schauen bei Facebook, was in Kabul passiert. Daher weiß sie auch, dass die Taliban Frauen momentan noch ohne Gesichtsbedeckung aus dem Haus lassen. „Aber das wird nicht mehr lange so sein“, ist die Afghanin überzeugt. Zarah Mousavi ist überzeugt, dass die Taliban ihr wahres Gesicht zeigen, sobald einige Länder sie als Regierung anerkannt haben. „Sie sind Schauspieler. Sie haben jahrelang gemordet. Sie sagen jetzt, sie hätten kein Problem mit Frauen, aber das ist gelogen“, sagt die 28-Jährige, die große Angst davor hat, dass ihre unverheiratete Schwester Maryam, sollte sie nach Kabul zurückkehren müssen, zwangsverheiratet wird. Und davor, dass Afghanistan zu einem Sammelbecken des IS wird.

Von den Bildern aus Kabul sind alle schockiert. Zarah kennt viele Kollegen ihrer Schwester Fatima, die „es nicht schaffen, wegzukommen“. Die Frauen, sagt Zahra, seien noch am Leben, „aber ihre Seele wird getötet“. Sie sei sicher, dass schon bald keine Frau mehr mit jemanden reden oder einfach irgendwohin gehen dürfe oder anziehen könne, was sie wolle.

Viele Menschen in Kabul treibe die Angst um. Die Angst, dass nachts ihre Türen eingetreten, ihre Fingerabdrücke genommen oder sie erschossen werden. Das sei schon passiert, aber es werde nicht bekannt. „Sie töten im Geheimen. Bei wem soll sich die Familie von Erschossenen denn beschweren? Es ist keiner da, der ihnen helfen kann!“

Zarah und Mehdi können nicht glauben, dass „ein Tag und eine Nacht“ ausgereicht haben, um das Land 20 Jahre zurückzuversetzen. Ihre Schwester Fatima und ihr Mann seien tieftraurig, „dass alles, was sie getan und erreicht hatten, umsonst war“.

Von der schnellen Eroberung des Landes und der Hauptstadt war auch ihre Familie überrascht worden. „Ohne etwas dagegen zu unternehmen, hat man den Taliban die Stadt überlassen. Wo kamen die vielen Taliban auf einmal her? Wo hatten sie sich versteckt?“, fragt Zarah und schüttelt dabei den Kopf. So viel Blut sei in den letzten Jahren geflossen, gerade auch in dem Stadtviertel, in dem Zarahs Familie lebt. Sie gehören zum Stamm der Sadat, sind Schiiten, die Taliban Sunniten. Das sei der Hauptgrund für die Auseinandersetzung. Es sei kein Religions-, aber ein Völkerkrieg.

„Es muss doch aber immer darum gehen, dass man zuerst Mensch ist. Dann kann man miteinander über alles reden, egal welchem Volk man angehört.“ Die Regierung aber sei korrupt, der Präsident habe wichtige Ämter an seine Familie vergeben, das Staatsgeld ins Ausland gebracht und „das Land an die Taliban verkauft“. Er gehöre dem Volk der Paschtunen an, das immer die Macht in Afghanistan hatte. „Der Präsident hat gesagt, dass der Taliban sein Bruder ist. Ein Bruder, den man zufriedenstellen muss“, berichtet Zahra Mousavi entsetzt.

Es sei falsch gewesen, dass die ausländischen Streitkräfte das Land verlassen hätten, ohne dass zuvor eine Wahl stattgefunden hatte. Es fehle den Afghanen eine gemeinsame Identität. Eine Regierung, in der alle Völker vertreten wären, hätte vielleicht eine Chance gehabt, mutmaßt die ehemalige Journalistin, die in Schmalkalden in einer Glastürenvertriebsfirma angestellt und dort sehr zufrieden ist.

Zarah und Jawid sind als politische Flüchtlinge anerkannt, haben ein dauerhaftes Visum in Deutschland bekommen. Nun droht ihren Eltern und ihrer Schwester der Tod. Sie hatten zuvor schon mehrfach in Kabul die Wohnung gewechselt, wechseln müssen, weil sie bedroht wurden wie Zahra und ihr Bruder.

„Wir wissen nicht, was nun wird“, sagt Zahra. Ihr Bruder, der bei der Volkshochschule Schmalkalden-Meiningen arbeitet, und sie würden für die Eltern bürgen, bestätigen, dass sie den Unterhalt für Eltern und Schwester übernehmen, dass diese nicht dem deutschen Staat auf der Tasche lägen, wenn man sie herkommen lasse.

„Wir haben noch etwa zehn Tage Zeit“, stellt Zarah fest. Dann läuft das Touristenvisum im Iran ab. Ihr Mann Mehdi, der im September einen Sprachkurs an der VHS beginnt und danach eine Ausbildung machen möchte, verfolgt die Unterhaltung. Er schenkt Tee nach, während es draußen, was der Blick in den Innenhof verrät, dunkel geworden ist. Dann sagt er: „Sie können nicht zurück nach Kabul.“