80 Jahre Kriegsende Bilder, die in den Köpfen bleiben

Vor 80 Jahren trieben SS-Angehörige Häftlinge des KZ Zahnradwerk durch die Straßen Sonnebergs. Viele Sonneberger wurden noch Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner Zeugen des letzten Kapitels des nationalsozialistischen Massenmords.

 
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An des Todesmarsch der Häftlinge vom Zahnradwerk erinnern seit vielen Jahren Gedenktafeln wie hier im Röthengrund. Foto: Carl-Heinz Zitzmann

Verhärmte Gestalten, Wachmannschaften und das Klappern von Holzschuhen – die Bilder von den Todesmärschen, auf denen Häftlinge der nationalsozialistischen Konzentrationslager zum Kriegsende vor 80 Jahren unterwegs waren gleichen sich. Anfang April 1945 wurde vielen Sonnebergern bewusst, was seit 1944 eher hinter vorgehaltener Hand zu erfahren war, in den Sandbergen zwischen Bettelhecken und Wildenheid gab es nicht nur einen Rüstungsbetrieb, das Zahnradwerk, sondern auch ein Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald.

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„Dieses Bild bekomme ich nicht mehr los“, erzählte vor zehn Jahren unserer Zeitung der im Jahr 2022 verstorbene Peter Leutheuser. Er wurde Anfang April 1945 Zeuge jener Ereignisse, die im offiziellen SS-Jargon Evakuierung hieß, für die aber der Begriff Todesmarsch eher zutrifft. Mit dem Vorrücken der Alliierten auf das Gebiet des Deutschen Reiches seit Beginn des Jahres 1945 sollten möglichst keine Beweise oder gar Zeugen der Verbrechen in den Konzentrationslagern zurückbleiben. Auch im Zahnradwerk bei Bettelhecken bestand ein Arbeitslager. Seit 1944 arbeiteten in dem Rüstungsbetrieb zeitweilig bis zu 500 Häftlinge. Der Eindruck auf junge Menschen wie Leutheuser war traumatisch: „Diese Bilder sind in meinem Kopf gespeichert wie auf einem Fotohandy.“ Palmsonntag 1945 hatte der Sonneberger Konfirmation, zum Karfreitag war er noch in die Kirche zum Abendmahl gegangen und nach den Feiertagen musste er sich beim Stützpunkt der Hitlerjugend in der Schule am Markt in der oberen Stadt melden. Als Volkssturmhelfer waren die jungen Leute rekrutiert worden. An jenen 4. April 1945 hatte ihn sein Vorgesetzter nach Bettelhecken geschickt. Er war noch nicht weit gelaufen, da stockte er in der Unteren Marktstraße: „Ich hörte ein Klappern, als ob Panzer kämen.“ Dann sah er den Zug: Menschen in Häftlingskleidung, begleitet von jungen SS-Leuten, die Hunde dabei hatten. Keiner sagte einen Ton. „Die Häftlinge hatten Holzpantinen an, das war das Geräusch, das ich gehört habe.“ Am Schluss des Zuges schoben Häftlinge einen Karren mit riesigen Rädern und einer Art Plattform. „Darauf lagen leblose Körper.“ Häftlinge und Wachmannschaften liefen die obere Stadt hinauf in Richtung Steinach. Was später geschah, erhellen Ermittlungsakten - und Leichen. Am 14. August 1945 entdeckten Steinacher Einwohner im Wald am Schustershieb sechs Tote. Bereits am 19. Juli waren auch in einem Steinbruch bei Eschenthal zwei Leichen entdeckt worden. Relativ schnell konnten die Toten als Opfer des Todesmarsches identifiziert werden. Bei einigen konnte die Todesursache eindeutig festgestellt werden. Sie waren mit Genickschüssen ermordet worden. Lange Zeit kursierten widersprüchliche Ansichten über den Todesmarsch der Sonneberger Häftlinge. Manche Zeitzeugen sprachen von der oberen Stadt, durch die diese Menschen getrieben wurden, andere wieder von Köppelsdorf und Hasenthal. Aus Akten alliierter Militärgerichte, die gegen Angehörige der Wachmannschaften ermittelten, ist zu entnehmen, dass es zwei Gruppen gab. Der Räumungsbefehl erreichte noch vor dem 2. April 1945 das Lager in den Sandgruben bei Bettelhecken. Am 4. April verließ die erste Gruppe über Steinach den Landkreis. Eine zweite Gruppe wurde am 9. oder 10. April auf den Weg über Köppelsdorf, Eschenthal und Hasenthal geschickt. Die Toten von Steinach und Eschenthal sollten nicht die einzigen bleiben. In Ostthüringen trafen die Sonneberger Häftlinge auf Leidensgenossen aus anderen Lagern. Nicht auszuschließen ist, dass unter den Toten in der Nähe des Außenlagers bei Lehesten ebenfalls Menschen sind, die von Sonneberg aus in den Tod geschickt wurden. Ein Teil der Häftlinge wurde im April bei Bad Elster von US-amerikanischen Truppen befreit, für andere Überlebende endete der Todesmarsch am 7. Mai kurz vor Prag.

Täter kommen glimpflich davon

Gegen Angehörige der SS-Wachmannschaften in Sonneberg wurden mehrfach Prozesse geführt. In Dachau wurde 1947 durch ein US-Militärgericht SS-Mann Heinrich Buuck während eines der Buchenwald-Prozesse zum Tode verurteilt. Ihn wurden Morde an KZ-Häftlingen nachgewiesen. Dass Buuck, dem besondere Brutalität bescheinigt wurde, nicht den Weg zum Galgen antreten musste, verdankt er einer Begnadigung durch den amerikanischen Militärgouverneur Lucius D. Clay. Die Todesstrafe wurde in 15 Jahre Haft im Kriegsverbrechergefängnis Landsberg umgewandelt. 1954 kam er auf Bewährung frei, da er sich auf Befehlsnotstand berief. Andere kamen glimpflich davon. Der Leiter des Außenkommandos in Sonneberg, SS-Obersturmführer Alfred Andreas Hofmann, wurde 1947 zu einer fünfjährigen Haftstrafe, im Kriegsverbrechergefängnis Landsberg, verurteilt.

Relativ spät begann die historische Aufarbeitung. Seit den 1970er Jahren wurde im Rahmen der Geschichtsarbeit Sonneberger Schulen auch das Sonneberger Außenlager thematisiert – nicht ohne politische Instrumentalisierung. Die Gedenksteine in Bettelhecken und am Schustershieb sowie die Tafeln an der Route des Todesmarsches tragen einen roten Winkel. Der langjährige Sonneberger Bürgermeister Gerhard Stier hat die Fakten zum Sonneberger KZ zusammengetragen und publiziert. 2007 dokumentierten Mitglieder des Vereins Son-Film Zeitzeugenberichte in einem Film.

Der israelische Historiker Daniyel Blatman charakterisierte die Todesmärsche als „letztes Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords“. Seine 2011 erschienene Monografie ist die erste kompakte, quellenbasierte Darstellung zu den Todesmärschen. Blatman zeigte, dass 1945 kein eindeutiger Mordbefehl bestanden hat, sondern Beweggründe wie Rachegefühle, Angst und rassistische Klischees die Menschen dazu getrieben haben, den häufig bereits verhungernden Häftlingen, die da plötzlich durch ihr Dorf, ihre Stadt kamen, nicht nur Nahrung und erste medizinische Hilfe verweigerten, sondern angetrieben von sogenannten „normalen Volksgenossen“, auch zu morden. Akteure waren lokale NS-Funktionäre, Bürgermeister, aber auch sonst eher unauffällige Menschen von nebenan. Andererseits hat es aber immer wieder Menschen gegeben, die halfen, aber es waren wenige.

Literatur und Dokumentationen