„Dieses Bild bekomme ich nicht mehr los“, erzählte vor zehn Jahren unserer Zeitung der im Jahr 2022 verstorbene Peter Leutheuser. Er wurde Anfang April 1945 Zeuge jener Ereignisse, die im offiziellen SS-Jargon Evakuierung hieß, für die aber der Begriff Todesmarsch eher zutrifft. Mit dem Vorrücken der Alliierten auf das Gebiet des Deutschen Reiches seit Beginn des Jahres 1945 sollten möglichst keine Beweise oder gar Zeugen der Verbrechen in den Konzentrationslagern zurückbleiben. Auch im Zahnradwerk bei Bettelhecken bestand ein Arbeitslager. Seit 1944 arbeiteten in dem Rüstungsbetrieb zeitweilig bis zu 500 Häftlinge. Der Eindruck auf junge Menschen wie Leutheuser war traumatisch: „Diese Bilder sind in meinem Kopf gespeichert wie auf einem Fotohandy.“ Palmsonntag 1945 hatte der Sonneberger Konfirmation, zum Karfreitag war er noch in die Kirche zum Abendmahl gegangen und nach den Feiertagen musste er sich beim Stützpunkt der Hitlerjugend in der Schule am Markt in der oberen Stadt melden. Als Volkssturmhelfer waren die jungen Leute rekrutiert worden. An jenen 4. April 1945 hatte ihn sein Vorgesetzter nach Bettelhecken geschickt. Er war noch nicht weit gelaufen, da stockte er in der Unteren Marktstraße: „Ich hörte ein Klappern, als ob Panzer kämen.“ Dann sah er den Zug: Menschen in Häftlingskleidung, begleitet von jungen SS-Leuten, die Hunde dabei hatten. Keiner sagte einen Ton. „Die Häftlinge hatten Holzpantinen an, das war das Geräusch, das ich gehört habe.“ Am Schluss des Zuges schoben Häftlinge einen Karren mit riesigen Rädern und einer Art Plattform. „Darauf lagen leblose Körper.“ Häftlinge und Wachmannschaften liefen die obere Stadt hinauf in Richtung Steinach. Was später geschah, erhellen Ermittlungsakten - und Leichen. Am 14. August 1945 entdeckten Steinacher Einwohner im Wald am Schustershieb sechs Tote. Bereits am 19. Juli waren auch in einem Steinbruch bei Eschenthal zwei Leichen entdeckt worden. Relativ schnell konnten die Toten als Opfer des Todesmarsches identifiziert werden. Bei einigen konnte die Todesursache eindeutig festgestellt werden. Sie waren mit Genickschüssen ermordet worden. Lange Zeit kursierten widersprüchliche Ansichten über den Todesmarsch der Sonneberger Häftlinge. Manche Zeitzeugen sprachen von der oberen Stadt, durch die diese Menschen getrieben wurden, andere wieder von Köppelsdorf und Hasenthal. Aus Akten alliierter Militärgerichte, die gegen Angehörige der Wachmannschaften ermittelten, ist zu entnehmen, dass es zwei Gruppen gab. Der Räumungsbefehl erreichte noch vor dem 2. April 1945 das Lager in den Sandgruben bei Bettelhecken. Am 4. April verließ die erste Gruppe über Steinach den Landkreis. Eine zweite Gruppe wurde am 9. oder 10. April auf den Weg über Köppelsdorf, Eschenthal und Hasenthal geschickt. Die Toten von Steinach und Eschenthal sollten nicht die einzigen bleiben. In Ostthüringen trafen die Sonneberger Häftlinge auf Leidensgenossen aus anderen Lagern. Nicht auszuschließen ist, dass unter den Toten in der Nähe des Außenlagers bei Lehesten ebenfalls Menschen sind, die von Sonneberg aus in den Tod geschickt wurden. Ein Teil der Häftlinge wurde im April bei Bad Elster von US-amerikanischen Truppen befreit, für andere Überlebende endete der Todesmarsch am 7. Mai kurz vor Prag.