Belegen diese Zahlen, dass es in Deutschland doch nicht sozial gerecht zugeht? Was ist eigentlich soziale Gerechtigkeit? "In der Theorie reicht Chancengleichheit für soziale Gerechtigkeit aus", sagt der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte dem Tagesspiegel . Die soziale Ungerechtigkeit sei oft eine gefühlte Ungerechtigkeit, die auch davon beeinflusst werde, dass Neid in Deutschland eine große Rolle spiele. Denn zumindest formell biete der deutsche Sozialstaat zahlreiche soziale Abfederungen.
"Die soziale Scheidelinie verläuft mehr denn je zwischen Arm und Reich", sagt der Armutsforscher Christoph Butterwegge. Soziale Gerechtigkeit lasse sich nicht allein über Chancengerechtigkeit erzeugen. Denn auch wenn alle Menschen theoretisch die gleichen Chancen zur Teilhabe an Bildung, Kultur und dem öffentlichen Leben hätten, so hingen diese Möglichkeiten heute von finanziellen Ressourcen ab. Die Reichen müssten deshalb höher besteuert werden.
"Soziale Gerechtigkeit ist vor allem Chancengleichheit", meint Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. Wenn alle Menschen die gleichen Startchancen hätten, sei ein Staat sozial gerecht. "Dass einige Menschen in Deutschland so viel verdienen, ist jedoch nicht der Grund dafür, dass andere so wenig haben." Die soziale Ungleichheit entstehe vielmehr, weil untere und mittlere Einkommensschichten nicht genügend Teilhabemöglichkeiten am Produktivvermögen hätten.
Sozial gerecht ist eine Gesellschaft, wenn sie Chancengleichheit bietet. Dies ist der gemeinsame Nenner aller Parteien. Sogar die FDP, die in ihrem Wahlprogramm "Potenziale und die Energie jedes Einzelnen" beschwört, widerspricht dem nicht. Doch Chancengleichheit gibt es in Deutschland nicht. Heute tragen Kinder aus armen Haushalten ein hohes Risiko, schon sehr jung den Anschluss zu verlieren. Seit Jahren prangern zahlreiche Pisa-Studien diesen Missstand an. Deutschland investiert im Vergleich zu anderen europäischen Ländern deutlich weniger Geld in die Bildung. Während drei Viertel der Kinder deutscher Akademiker studieren, tut dies nur jedes vierte Arbeiterkind. Schon die frühe Trennung zwischen Gymnasium und anderen Schularten zementiert soziale Unterschiede.
Kinderarmut ist kein Randproblem. Das Armutsrisiko von Kindern ist in Deutschland nach neuen Zahlen auf einen Rekordstand gestiegen. Gut jeder fünfte Heranwachsende unter 18 Jahren ist von Armut bedroht, wie Zahlen des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden zeigen. Thüringen liegt mit 17,2 Prozent im Mittelfeld aller Bundesländer.
Anita Mühlbauer und ihre Helfer kümmern sich auch um diese Kinder. "Wir schmieren Pausenbrote für zwei Schulen", erzählt die Tafel-Vorsitzende. Wer kein Frühstück habe, "bekommt es von uns". Die Rentnerin glaubt nicht, dass sie künftig weniger Arbeit hat. Was sie sich von der neuen Bundesregierung wünscht? "Es wäre schön, wenn der Staat uns ein wenig unterstützen würd e." Es wird wohl ein unerfüllter Wunsch bleiben.