Teil 1: Von Kaluga sollte keiner lernen

Die Holzhäuser. Mit einer nostalgischen Verklärung denke ich an sie. Durch die meterhohen Fenster des Parteigebäudes kann ich ringsum in gebührlicher Entfernung zum Lenin-Denkmal noch einige dieser Holzhäuser sehen. Wie geistesabwesend frage ich die Gebietschefin in eine der Zahlenpausen hinein: "Wie viel der alten russischen Holzhäuser haben Sie abgerissen, um diesen Palast hier bauen zu können?"

Ernst Lehmann schaut mich entsetzt und strafend an, die Gebietschefin redet weiter. Also ein Beispiel für die Perestroika im Kulturbereich: Früher hätten sie ein Ministerium für Kultur und eines für das Kinowesen gehabt, nun wären diese Ministerien vereinigt worden ...

Sozialer Kapitalismus?

An die 30 Schriftsteller, Verleger und andere Kulturschaffende haben sich zu ihrer turnusmäßigen Versammlung in Kaluga zusammengefunden. Der Vorsitzende begrüßt die Kollegen aus der DDR. Nun ja, es sei keine Tagesordnung vorgesehen, man solle einfach reden. Tee und Plätzchen. Er hält sich an beides, sagt kein Wort mehr. Vielleicht wäre er auch nicht zu Wort gekommen.

Wladimir, einen Russaphilen aus Überzeugung, hatte ich zuvor im Gespräch mit einer Dolmetscherin erlebt, einer Jüdin. Sie heulte danach, fand keine Argumente gegen sein hysterisches "die Juden sind an allem Elend Russlands schuld".

Heute spricht er davon, dass die Russen in ihrem russischen Schriftstellerverband nur Russen dulden sollten. Keine Usbeken oder Litauer, keine Kirgisen oder Kasachen. Ein anderer Schriftsteller zeigt der Runde ein Bündel Briefe von Insassen aus Stalins Lagern. "Wisst Ihr, was noch unsere einzige Aufgabe hier ist: Diese Briefe veröffentlichen und danach schweigen oder sich erschießen!"

Ich versuche zu Wort zu kommen, frage, was sie jetzt schreiben. "Nichts. Alles, was wir schreiben wollten, schreibt jetzt die Presse und viel schneller. Wassiliwitsch, er hatte mir vorher seine Visitenkarte gegeben auf der steht: "Schriftsteller und Teilnehmer am Großen Vaterländischen Krieg", behauptet, dass trotz aller Verbrechen der Sozialismus in der Welt doch eines erreicht hätte: "Dass sich der Kapitalismus wegen der Existenz des anderen Systems schneller und sozialer entwickelt hat." Der Kollege, der immer noch das Bündel Briefe in der Hand hält, schreit: "Ja, der Kapitalismus hat sich zusammengeschlossen gegen den Sozialismus, aber das ist doch so, als ob man sich gegen eine Verbrecherbande zusammengeschlossen hätte. Da stehen einige auf und gehen.

"Kalinka" singen

Der Vorsitzende trinkt Tee und knabbert an seinem Plätzchen. Und ich stelle verlegen eine Flasche Korn auf den Tisch. Und nach dem dritten Schnaps entwickeln die Kalugaer Kollegen die Idee, dass es nicht auf den Namen Sozialismus oder Kapitalismus ankomme, das System müsse nur gut für das Volk sein. So paradiesisch wie in Finnland oder Kanada beispielsweise.

Abends im Hotel läuft einer der mittleren Suhler Kulturfunktionäre von einem zum anderen und schreibt Zahlen auf. Wie viele Leute bei den Veranstaltungen erschienen seien, welche Probleme die sowjetischen Menschen diskutiert hätten. Man brauche es für den Abschlussbericht zu Hause. Für den Rechenschaftsbericht. Ich lasse ihn stehen ...

Probe des Balaleika-Orchesters. Für uns gibt es Extraständchen. "Kalinka" und "Oh Abendklang" und "suchte ich das Grab meiner Liebsten" ... Ich werde wehmütig, bin in Versuchung, mitzusingen. Wir haben diese Lieder, diese russischen Volkslieder in der Schule gesungen, in Pionierversammlungen, am Lagerfeuer im Ferienlager. Ich liebte diese Lieder und die Heimat dieser Lieder. Aber das war nicht genug. Über die Heimat und ihre Lieder erzog man uns auch, diesen Staat zu lieben. "Sag'mir, ob du ,Kalinka' singst, und ich sage dir, ob du den Sowjetstaat liebst." Sie haben sie zu Huren gemacht, diese Lieder ...

Pawel erklärt dem Genossen Lehmann inzwischen die Versuche der Kulturreform in der Sowjetunion. Man wolle Ökonomie und Kultur miteinander vereinen, Theatergruppen sollen sich wieder selbst finanzieren, Kulturmitarbeiter nach ihren Leistungen bezahlt werden ... "Nein, nein", sagt Lehmann, "nein wir haben solche Reformen nicht nötig. Das haben wir alles längst vor euch gemacht. Das hatten wir schon. Das hatten wir schon, hatten wir schon!"

Und dann die Festveranstaltung im mäßig gefüllten Festsaal von Kaluga. Ernst Lehmann hält seine Rede. Er spricht ohne Leidenschaft, liest gleichförmig Wort für Wort. "Der 40. Jahrestag war ein Ereignis von historischer Bedeutung. Auch wenn von der Bundesrepublik versucht wird, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, erweist sich die DDR als ein stabiler Faktor. Wir haben sehr würdig gefeiert."

Vorzeitige Abreise

Gerd Aderhold hat mir vor dem Abflug am Telefon von der Staatsfeier im Palast der Republik in Berlin erzählt. Er war Dolmetscher von Generalmajor Mariano de Aranjo Matshina, Leiter der offiziellen moçambiquanischen Regierungsdelegation, dabei, als sich Gorbatschow und Honecker und alle anderen Repräsentanten im Festsaal versammelten. "Ich kann es dir am Telefon nicht erzählen, es war gespenstisch. Honecker redete kürzer als gewollt, sah aus, als sei er sein eigener Geist. Er lächelte gequält, wenn ihm Gorbatschow etwas sagte. Sekt und Musik und immer wieder sah ich, wie Krenz in unbeobachteten Momenten die Gardine zur Seite schob und nach unten schaute, wo das Volk ,Gorbatschow' und ,Freiheit' rief. Kaviar und alle anderen Genüsse der Welt. Der Palast hell erleuchtet, Sekt und Musik. Er muss von draußen in der Dunkelheit ausgesehen haben wie die Titanic."

Nach der Festveranstaltung in Kaluga Treffen der Delegationsleitungen im Gästehaus. Auch ich werde eingeladen. Und auch hier mit vom Alkohol befreiter Zunge kein Wort der Wahrheit, nichts an Offenheit, wie es unter Freunden nötig ist. Wieder nur Phrasen, wie erfolgreich wir in der DDR den Sozialismus aufbauen. Toast darauf! Ich kann nicht mehr. Ich sage, dass ich eher als die Delegation abreisen werde. Nein, ich könne das nicht, ich sei Mitglied der Delegation. Doch, sage ich, ich werde morgen früh fahren. Pawel fragt, ob man mich im Auto nach Moskau bringen soll. Nein, sage ich, ich werde mit dem Zug fahren. Und ich möchte ihm noch sagen, dass ich nicht wegen ihm wegfahre, sondern dass ich aus der DDR fliehe.

Scherzer und Freies Wort

Landolf Scherzer, Jahrgang 1941, studierte Journalistik in Leipzig, wurde 1965 exmatrikuliert, weil er in der Abschlussarbeit den DDR-Personenkult thematisierte und schon damals kritische Reportagen schrieb. "Zur Bewährung" kam der Dresdner in den Thüringer Wald, fing 1966 auch ohne Diplom als Redakteur bei Freies Wort an und blieb dort bis 1975. Seitdem ist Scherzer freier Schriftsteller, lebt heute in Suhl und Erfurt. Bekannt ist er unter anderem für seine literarischen Reportagen aus dem In- und Ausland und für sein 1988 erschienenes Buch "Der Erste" über den SED-Chef von Bad Salzungen. Aufsehen erregte auch Scherzers Reportageserie "Der Grenzgänger", für die er 2004/2005 im Auftrag von Freies Wort die einstige Außengrenze des Bezirks Suhl zwischen Spechtsbrunn und Vacha ablief.