Das Wort Gutmensch ist eine Erfindung der Neonazis. Das vorab. Als könne etwas sich zum Schlechten wenden, weil es zu viel des Guten ist. Zu viel des Guten, das gibt es zweifellos. Aber das Ergebnis kann nie etwas Schlechtes sein. Sondern zu viel des Guten heißt nur, dass etwas noch besser hätte sein können, wenn man es mit dem Guten nicht übertriebe.

Über den neu gegründeten Verlag Exil Noir

"Ich bin seit 20 Jahren als Autor aktiv, habe über 200 Lesungen hinter mir, ein paar Tausend Bücher verkauft und weiß, wie schwer es ist, einen Verlag zu finden, wenn man als Autor keinen Namen hat", sagt Hendrik Neukirchner. "Als Mitveranstalter des Kunst- und Literaturfestes PROVINZSCHREI weiß ich demgegenüber aber auch, dass es Hunderte guter Autoren gibt, die wunderbare Prosa oder Lyrik schreiben." Für diese Autoren soll Exil Noir eine Heimat bieten. Vorerst sollen mit relativ kleinen Auflagen Bücher für Liebhaber produziert werden, die etwa Literatur und Bildende Kunst vereinen. Die Autoren müssen, anders als bei vielen Klein- oder Selbstverlagen, die Kosten nicht vorstrecken. Im Programm finden sich bislang neben "Das Küssen von Gummidichtungen" der Aktkalender "Noxintima" und ein Werk über Leben und Werk von Horst Meier alias Erwin Missere, Bildhauer und Auslandsagent der Stasi.

Womit wir langsam zum Thema kämen. Mit dem Guten übertreiben, das ist eine Gefahr für alle Wortsurfer. Da sitzt der Poet in seinem Zimmer, das in der Fantasie mit nichts ausstaffiert ist als einem alten Holztisch, einem klapprigen Stuhl, einem MacBook (die Schreibmaschine war gestern), ein paar leeren Bierflaschen (aber bitte nur ausgewählte Poeten-Marken wie Astra, Sternburg, Tannenzäpfle oder irgendwas Böhmisches - das gute alte Herr-Lehmann-Beck's ist irgendwie auch schon Nuller-Jahre), und schon bleiben die Metaphern in der Tastatur kleben und summen im Ohr wie damals in Omas Wohnzimmer die Fliegen am Klebstoff des Fliegenfängers.

Was das alles mit dem Bändchen "Das Küssen von Gummidichtungen" zu tun hat, der nun im in Suhl und Leipzig beheimateten, neu gegründeten Verlag Exil Noir in einer limitierten Auflage von hundert Exemplaren erschienen ist? Nun, es stellt sich die Frage, ob das Bändchen nicht zu viel des Guten will. Denn man kann "Das Küssen von Gummidichtungen" als Manifest des jungen Verlags deuten. Der will laut seiner Eigenwerbung "ein Piratenhafen" sein - "für all jene irrlichternden progressiven Autoren, deren literarische Forschungsschiffe in den main- streamgetriebenen, umsatzdiktierten, wachstumskranken und potenzialblinden Bücherozeanen keine Verlagsheimat finden."

Die beiden Gründer - Autor und Provinzschrei-Organisator Hendrik Neukirchner aus Suhl und der Agenturchef Henri Selbmann aus Leipzig - versammeln im Band eigene poetische Texte, ergänzt um Grafiken von Selbmann selbst sowie stimmungsvolle, erotische Fotografien von Sergey Sivushkin, ebenfalls aus Leipzig. Ziel ist ein Gesamtkunstwerk, ein schmaler, schwarz verpackter, grauer Band, edel gebunden mit selbstredend rotem Faden, durchnummeriert. Das Gespenst, das in diesem Manifest umgeht, ist nur nicht der Kommunismus, aber ein ähnlich mysteriöses, nämlich die Liebe.

Sätze, die umhauen

Nun ist es mit der Liebe wie mit dem Kommunismus, jeder versteht etwas anderes darunter, und man fragt sich zuerst, was für einen selbst dabei rauskommt. "Schwere Wolken streichelten dein Haar und mich, und mich, und mich" - versinnbildlicht Neukirchner diesen Egoismus im Eingangstext "Die Farbe deiner Augen". Poesie, das ist für ihn keine verschwurbelte Sprach-Akrobatik, sondern etwas, das den Leser oder Hörer auf die Matte haut. Neukirchner war schließlich Ringer.

Und so rotzt er Sätze hin wie "Und all die schlauen Hinweise und Ratschläge sind doch nur Hundescheiße, in die wir Tag für Tag treten" . Gegen Liebeskummer speit er im Tourette-Syndrom an: "Maul! Scheißdreck! Dreckfotze." Dann wieder bekommt die Liebe etwas Unwirkliches: "'Halt mich!',/ rufst du,/ und lässt dich fallen./ Ich greife ins Leere." Und die Schweinswale, die das Meer durchpflügen, künden: "Die Sonne geht unter/ und unsere Liebe mit."

Zu diesen klaren Sätzen liefert Henri Selbmann den Gegenentwurf, eine aufgeladene Sprache, deren Inhalt nebulös bleibt, nebulös bleiben soll, eine partizipienschwere Poesie mit Mond und Morgen, mit Janusblau und Ausrufezeichen. Poesie, die beim ersten Lesen hierhin und dorthin durchs Zimmer rauscht wie ein aufgeblasener Luftballon, den man loslässt. Wer mehrfach liest, sich Zeit nimmt, wer den Luftballon zuhält, findet sie dann doch: die sprachlichen Bilder, die kleben bleiben - nicht im Fliegenfänger, sondern im Gehirn, wie das "Salz Zufriedenheit", wie der "Anblick geronnenen Blutes in den Rissen unserer Haut".

Plädoyer für Kunst

Zwei Autoren, zwei lyrische Stile, zwei Sichten auf Liebe, dazu des einen Grafiken und dann noch ein Fotograf, der mit seinen geheimnisvollen Bildern zusätzlich Räume öffnet? Und das Ganze komprimiert auf 60 Seiten? Das klingt in der Tat nach zu viel des Guten. Nach zu viel gewollt. Aber je länger man in diesem Band blättert, um so mehr entblättert er sich. Als ein Plädoyer für Kunst, die für sich steht und nicht für den Mehrwert, den sie erwirtschaftet. Das kann erst einmal nur etwas Gutes - und keinesfalls etwas Schlechtes sein. Und das kann nur - noch! - besser werden. "Das Küssen von Gummidichtungen" weist den Weg.