Vielleicht hätte der Altmeister der literarischen Reportage, Egon Erwin Kisch, nach dem Lesen von Walter Kaufmanns "Die meine Wege kreuzten" seine Theorie über dokumentarisch literarische Porträts erweitert. Denn Kisch ließ nur Porträts gelten, in denen die beschriebenen Menschen mit ihren Lebensgeschichten Zeugnis über historisch wichtige politische Ereignisse ablegten.

Dem entsprechen die 70 Personen in Kaufmanns lebensprallen Buch auch wegen der Kürze ihrer Beschreibung - den meisten sind nur anderthalb Seiten gewährt - nicht in jedem Fall. Sie dokumentieren im Einzelnen nur teilweise Weltgeschichte. Aber sie setzen mit ihren Details das Bild eines Menschen zusammen, das Kisch zurecht als "Person die eine ganze geschichtliche Epoche verkörpert", beschrieben hätte: den Autor Walter Kaufmann.

Welch ein Leben des heute 94-Jährigen. Mit 14 Jahren (noch bevor seine jüdischen Eltern ins KZ verschleppt wurden) gelangt er mit einem Kindertransport nach England, um den Nazis zu entkommen. Von dort 1940 als "deutscher Feind" nach Australien deportiert. Diente dann freiwillig in der australischen Armee, wurde Seemann, Fotograf, Obstpflücker, schließlich Rückkehr nach Europa. In Berlin (Ost) Reporter, Reportagen von den Brennpunkten auf drei Kontinenten. Erzählungen und Romane, Autobiografien wie "Meine Sehnsucht ist noch unterwegs" aus dem Jahr 2016.

Rabbi, Feldwebel, Freund

Und nun schüttet er das Füllhorn der Begegnungen von neun Jahrzehnten aus. Die Erlebnisse und Erfahrungen von Menschen, die seine Kindheit prägten, die trauernde Mutter, der Rabbi, der mutige Lehrer, der ihn vor der Bestrafung durch einen HJ-Führer bewahrt, die Direktorin des englischen Internats, in dem er bis zum "Abtransport nach Australien" lebte, der Feldwebel, der ihn 1940 mit 2000 anderen "feindlichen Ausländern" auf der Überfahrt nach Australien bewachte, der Freund in der australischen Arbeitsarmee, der Sanitäter im spanischen Bürgerkrieg war und ihm mit seinen Erfahrungen beim Schreiben des ersten Romans geholfen hatte, die australische Schauspielerin, die er liebte . . .

Danach einige der Menschen, die er in der DDR und in der BRD (unter anderem den Anwalt und späteren Bundesminister Otto Schily) und bei Reportagereisen in vielen Ländern kennenlernte. Am Schluss dann einen Freund, den er bei einem Leseabend in der Duisburger Synagoge (Walter Kaufmann wuchs in Duisburg auf) 2016 wiedertraf.

70 Tupfer für ein großartiges Bild der Weltgeschichte zwischen 1927 und 2016. 70 Begegnungen, in denen der Autor nicht nur die Menschen, die seine Wege kreuzten, beschreibt, sondern durch ihre Geschichten seine Geschichte darstellt. Der 94-Jährige schaut uns nicht nur vom Umschlag des Buches mit gütigen, wissenden und immer noch neugierigen Augen, sondern auch aus jeder Textzeile seiner beschriebenen Begegnungen an: ehrlich, verschmitzt, unsicher, kämpferisch, verliebt, erfahrend und hoffend. Es ist gut, dass er mit seinem Buch bewiesen hat, wie man aus vielen kleinen Lebensstationen anderer Menschen das eigene Porträt und die Stationen der Weltgeschichte literarisch interessant darstellen kann.

Wenn ich nach der Lektüre des Buches drei Wünsche frei hätte, würde ich mir erstens wünschen, dass ich ein wenig über dieses außergewöhnlich Langzeiterinnerungsvermögen (selbst die Haarfarbe und die Kleidung von Personen, die er vor 70 Jahren traf, vermag der Autor heute noch genau zu beschreiben) verfügen könnte. Zweitens, dass Walter Kaufmann einige der Kurzporträts zu längeren interessanten Geschichten, vielleicht Erzählungen erweitert, und drittens, dass er die original englischen Gesprächspointen im Buch auch ins Deutsche übersetzt.

Walter Kaufmann: "Die meine Wege kreuzten. Begegnungen aus neun Jahrzehnten", Quintus Verlag Berlin-Brandenburg, 2018, 168 Seiten, 18 Euro

P.S.: Ich habe noch einen vierten Wunsch: Lieber Walter Kaufmann, leg den Stift noch nicht zur Seite, sondern schreibe uns weiter solche großartige Bücher, von denen Kisch sagen würde: "Nichts ist fantasievoller und spannender als die Wirklichkeit."