Thüringer helfen "Angst, das Licht anzumachen"

Von Klaus-Ulrich Hubert
Ein glücklicher Moment, wie er selten geworden ist bei den Schneiders in Plaue: Heidi und Torsten mit ihrem schwerst epilepsiekranken Elias-Paul und der hilfreichen Labrador-Therapiehündin Lilly. Foto: uhu

Es geht zu jeder Tages- und Nachtzeit um rettende Minuten, um Leben oder Tod: Seit drei Jahren ordnet Familie Schneider in Plaue (Ilm-Kreis) ihr Leben um die Krämpfe ihres dreijährigen Elias-Paul.

 
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So wie an diesem Sonntagnachmittag wünschen sich Heidi und Thomas Schneider mehr Zeit mit ihrem Jüngsten. Fröhlich strahlt der beim Gespräch mit dieser Zeitung auf Papa Torstens Arm in die Kamera. Elias-Paul ist gut drauf. So wie noch Ende September 2011.

Das Bild zeigt eine Welt, die die junge Familie aus Plaue im Ilm-Kreis seit drei Jahren nur in wenigen wertvollen Momenten so kennt. Damals noch, als die Familie, zusammen mit seinem heute 14-jährigen Bruder Marcel, das Menschlein nach der Geburt zärtlich in die Arme schloss.

An dieser kurzen, fast sorglosen Zeit wärmen sich die Schneiders heute noch, wenn sie Fotos betrachten.

Auf einmal die Hölle

Bis plötzlich über sie und ihren Kleinen die Hölle hereinbricht! Heidi will sich an keiner Impfgegner-Debatten beteiligen, als sie sagt: "Am 4. Januar 2012, unser Süßer hatte nach der Sechsfach-Impfung seinen ersten Anfall bekommen. Zuerst hieß es: Fieberkrampf. Dann kamen schlimmere Anfälle."

Ihren "Doc Detlef Stein", Chefarzt Kinder- und Jugendmedizin der Ilm-Kreis-Kliniken, nennt die Heidi Schneider samt Team und Rettungsmedizinern die Besten der Besten.

Nicht nur, wenn gerade wieder der Rettungswagen zu Schneiders in die enge Mühlgasse rasen musste.

Manche Woche mehrfach - immer, wenn die Muskeln des Kleinen krampfen, als seien sie aus Stahl, als würde er das nicht überleben!

Wie all die ungezählten Male nach Notfall-Anrufen, in denen im Klinikum alles bereit ist, um den Jungen aus immer gefährlicheren Krämpfen zurück zu holen.

Heftige Bewegungen

"Unser Arzt hatte uns nach ersten Anfällen zum Gentest geschickt. Vier bange Wochen bis zur Diagnose ..."

Die war vernichtend, markierte einen neuen Lebensabschnitt der Familie: "Dravet-Syndrom mit Mutation im so genannten SCN1A-Gen. Also schwerster Grad von Epilepsie", sagt Heidi. Und: "Therapieresistent samt seltener Komplikationen."

Zu allem, was die Eltern mit der niederschmetternden Diagnose und dem fortan nur noch um die Pflegebedürfnisse "herum verlegten Alltag erfahren, recherchieren sie auch im Internet. Sie erfragen, sie lesen alles über "schwere myoklonische Epilepsien des Kindesalters, die typischerweise bei zunächst gesunden Kindern im ersten Lebensjahr zu Krämpfen bei Fieber führt". Und sie lesen dort: "Beispielsweise auch nach Impfungen."

Die Schneiders erleben diese Hölle ihres geliebten Söhnchens seit drei Jahren. Sitzen rund um die Uhr auf dem Notfallkoffer. Die Anfälle können mit und ohne Fieber auftreten, sind zumeist klonisch (griechisch: "klonos" = heftige Bewegungen) und sie dauern lange. Oft sehr lange.

Schweizer Lawinenhund

Wir dabei in Todesangst um das Kerlchen. Trotz vielerlei Medikamenten-Einstellungen. Trotz wochenlanger Klinikaufenthalte." Torsten öffnet eine große Schublade: "Schauen sie, alles Medizin für unseren Filius. Unendlich viele Auslösereize der Krämpfe mit ständigem Risiko plötzlichen Todes."

"Eine Wissenschaft für sich", sagt Heidi mit entschuldigendem Unterton: "Für den Fall, dass unser Zeitungstermin gleich abrupt mit der Notruf-Wahl endet."

Kälte, Schnee, Sonne, Musik, Fernsehbilder, Lärm, Überforderung, Infekte, Fieber ... "Sogar wohlig duftendes Badewasser und unübersehbare Freude des Jungen, vielleicht sogar ein Foto-Blitzlicht können Auslöser sein. Fast alles kann zu lebensbedrohlichen Zuständen bis hin zum plötzlichen Tod führen." Jetzt schwänzelt liebevoll Labrador-Hündin Lilly um Elias-Paul.

"Das hatte sie schon bei der ersten Begegnung mit ihm gemacht. Beim Züchter. Sie erschnuppert das bereits vor den Krämpfen ausdunstende Sekret", erklärt Thomas. Als Therapiehündin habe Lilly aber noch "ein straffes Medizin-Studium vor sich".

Ein Tierarzt und Hundetrainer lehrt die wachsame Bettfreundin von Elias-Paul, "bevor's wieder los geht, Alarm zu schlagen, das Kind im Liegen zur Seite zu drehen, damit er nicht an seinem einschießenden Rachenschleim erstickt."

Besonders die schlaflosen Nächte zermürben die Eltern. Ein Babyphon am Nachttisch bietet keine Sicherheit, wenn es zur Unzeit im Kinderzimmer los geht mit den Krämpfen.

Labrador Lilly studiert es inzwischen, eine Notfall-Taste zu drücken: "Falls wir mal nicht kurz nach ihrem Alarmierungs-Gebell im Zimmer stehen, dem Kleinen zu helfen, Sauerstoff zu verabreichen, den Schleim-Absauger tief in den Rachen des Kleinen zu schieben. Und Lilly zu loben! Bis draußen wieder das Rettungswagen-Blaulicht durchs Fenster blinkt."

Heidi hat Angst "mal nicht wachsam genug zu sein". Oder in ihrer Nachtschicht im Wechsel mit Torsten wieder einzuschlafen, wenn der Wecker zum Kontrollgang tönt. "Dann, wenn man besser gleich aufgestanden wäre oder gleich aufgeblieben wäre."

Aber wie steht man das durch?

Torsten gesteht: "Manchmal habe ich bei Alarm im Kinderzimmer habe Angst, das Licht anzumachen. Ohne zu wissen, was mich erwartet. Und wie schlimm er im Krampfen leidet und vielleicht entstellt ist oder wie auch diese Nacht wieder endet."

"365 Tage im Jahr"

Heidis Notfall-Umhängetasche mit Sauerstoff-Beatmer, Pulsoxymeter zur Blutsauerstoffmessung durch die Haut, Schleimabsauger ist ausgehfertig. Für eine kurze Frischluftrunde mit dem Jungen.

Derweil findet Torsten etwas Zeit für Arbeiten an "tausend und einem Problem" ihres vor fünf Jahren "mit vielen Ü-Eiern, angeblich voll saniert, gekauften Haus nebst Pensionszimmern."

Lilly winselt: "Sie hat es später sogar drauf, uns die Notfalltasche zu bringen: "Wie einst Schweizer Lawinenhunde mit dem Fässchen für die Verunglückten um den Hals." Bei dem Vergleich lacht Heidi ihr schönstes, noch immer verbliebenes Lächeln.

Die 34-Jährige und ihr Mann wissen auch "dieses hohe Engagement, die Weiterbildungen unserer Mediziner für einen seltenen Fall wie dem unseres Kleinen" zu schätzen: "Wir können uns nur verbeugen, Respekt und Dank ausdrücken: Von den Ilm-Kreis-Kliniken bis zum pädiatrischen Zentrum in Suhl."

Seit Erkrankung ihres Jüngsten leben die Eltern 24 Stunden, sieben Tage die Woche ,365 Tage im Jahr in ständiger Angst, ihn zu verlieren. "Weil wir den Anfall nicht rasch genug erkennen und in den Griff bekommen könnten."

Dann noch zwei Krebs-OP

Übrigens: Schneiders würden all dies nicht ohne viel elterliche Hilfe im Alltag und bei Baufinanzierung schaffen. Sie haben sich auch nicht per SOS-Ruf an diese Zeitung gewendet. Die Kirmesgesellschaft Plaue und hilfreiche Kameradinnen und Kameraden im Ilm-Kreis-Feuerwehrverband haben ebenso wie kürzlich das in Ilmenau traditionelle Jugend-Musical-Projekt Spendenaktionen mit dieser Zeitung gestartet.

Dies allerdings nicht, ohne von Torstens Arbeitsagentur-Odyssee ("Hm, wie, Sie haben ein ständig pflegebedürftiges Kind?") und den Gerichtsterminen wegen der Haus-Kauf-Überraschungen zu wissen.

Oder vom Kampf um Pflegegeld für den schwerstkranken Sohn. Samt heftiger Videodokumente, Beleg seines Martyriums. 27 Gutachten waren "beizubringen". Und, so Heidi, selbst der Pflegedienst überfordert.

Oder von der Show, als das Fernsehen den Regionalchef ihrer zunächst sehr "zurückhaltenden" Kasse im Studio hatte.

Oder, wie es in der eigentlich gut frequentierten Pension Schneider - als Heidis superschmalem Nebenjob - oder mit Torstens Ein-Mann-Baufirma aussah. "Wie wir deshalb anderthalb Jahre auf 20 Quadratmetern hausen mussten", erinnert Heidi.

Böse Nazi-Mitbürger

Damals, bei Nachsanierungen der eigenen vier Wände, mussten wir uns Anwaltshilfe holen. Damals, als dann auch noch Torsten zweimal wegen Schilddrüsenkrebs unters Messer musste.

Schneiders wissen aber neben aller Solidarität auch noch, dass es im Städtchen Unterschriftenlisten von Eltern gab. "Die wollten unseren Kleinen nicht ihren Kids auf dem Spielplatz zumuten."

Es kam noch böser: Das unüberhörbare Zuraunen durch einen älteren Mitbürger und "braven Kirchgänger", der schon gern mal das "Blockieren der Straße durch Rettungswagen" attackierte.

Und, Schneiders glaubten sich erst verhört zu haben: "So was wie unseren Jungen habe man doch zu Hitlers Zeiten vergast!"

Nun wollen Schneiders auf einem angrenzenden Abriss-Grundstück "Elias-Pauls eigene, behütete kleine Spielplatz-Welt jenseits von Behinderten-Hass und Nazi-Attacken" bauen , wie sie sagen.

In ganz kleinen Schritten, so wie Geld verfügbar ist.

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