Wirtschaftsgeschichte ist ein einsames Feld, ist doch der Historiker mit einem mehr oder weniger gut sortierten Konglomerat an Akten und Erzählungen meist alleine auf weiter Flur. Mitunter steht er - vor allem, wenn DDR-Geschichte und Nachwendeereignisse zu untersuchen sind, auch vor verschlossenen Archiven. Und gar nicht so selten klaffen riesige Löcher, weil Firmenarchive verschwunden oder einfach entsorgt worden sind.

Vier Jahre lang hat die Leipziger Historikerin Ulrike Schulz die Geschichte der Suhler Simson-Werke zusammengetragen. Unter dem Titel "Simson - Vom unwahrscheinlichen Überleben eines Unternehmens 1856-1993" ist sie als Buch erschienen. Gründlich bearbeitet und auch für Nicht-Historiker lesbar gemacht. Denn das geradezu gigantisch anmutende Projekt ist eine Dissertation an der Universität Bielefeld. Die Nöte eines Wirtschaftshistorikers mögen Schulz in den Jahren des Schreibens des Öfteren geplagt haben. 137 Jahre Firmengeschichte unter den Vorzeichen von fünf politischen Systemen, mit mehrfach wechselnden Eigentümern und mit schier undurchschaubaren Verflechtungen von Fertigungszweigen und Standorten lassen sich nicht so leicht ordnen - vor allem, wenn man nirgendwo anders nachschauen kann als in lückenhaften Akten und stets auf sich selbst vertrauen muss. Andere Literatur zu Simson gibt es nicht.

Die Treuhand versagt

Acht Kapitel hat Schulz geschrieben - von den Anfängen der Firma als kleiner Zulieferbetrieb und "Gemischtwarenladen" der Brüder Löb und Moses Simson 1856 bis hin zur gescheiterten Treuhand-Privatisierung 1993. Auf das erste Kapitel, das 19. Jahrhundert, ist sie besonders stolz. Die Ereignisse all jener Jahre aneinanderzureihen - das war wohl die kleinere Aufgabe. Ulrike Schulz hat die Firmengeschichte unter wissenschaftlicher Fragestellung untersucht. Sie wollte herausbekommen, warum "Simson" knapp 150 Jahre lang überleben konnte, obwohl sie vier größere Schocks verkraften musste: Den zweifelhaften Rüstungsvertrag mit der Reichswehr Anfang der zwanziger Jahre, die Enteignung durch die NSDAP samt Einrichtung der Wilhelm-Gustloff-Stiftung 1935/36, die Überführung in die Sowjetische Aktiengesellschaft 1945 und die Zusammenlegung mit dem Thälmann-Werk 1969. Und schließlich wollte Schulz auch herausbekommen, warum die Firma der Simsons die Wende nicht überlebt hat.

Ihre Untersuchungsergebnisse, die sie auf Grund vieler verschiedener Analysen und Einschätzungen zieht, sind einleuchtend und verblüffend zugleich: "Simson konnte sich stets behaupten, weil die jüdische Unternehmerfamilie ihre Firma aus einem stabilen Familienverband über drei Generationen heraus leitete", sagt die Historikerin. Und zwar weniger als Techniker und Erfinder - wie bei anderen Suhler Unternehmen - sondern mehr als Kaufleute und Manager. Die Söhne und Erben wurden frühzeitig und konsequent auf die Übernahme des Unternehmens vorbereitet und entsprechend ausgebildet. Versagte der Familienverband, wie etwa nach der Enteignung durch die NSDAP 1935 und nach Kriegsende 1945, da sorgten das mittlere Management und letztlich die Arbeiter selbst dafür, dass die Firma weiterlief. Den zweiten Grund für das langfristige Überleben sieht Schulz in der Produktpalette. Die Simsons hätten - angefangen vom Auto über Waffen bis hin zum Fahrrad - stets gefragte Waren hergestellt und bewusst am Image eines Gemischtwarenladens festgehalten.

Natürlich regierte auch der Zufall in der langen Unternehmensgeschichte: Der Vertrag mit der Reichswehr führte das jüdische Unternehmen sicher durch die Wirtschaftskrise der zwanziger Jahre - machte es jedoch abhängig vom Staat und zur Zielscheibe der Nationalsozialisten. Nach dem Krieg erwies sich die Entscheidung der Sowjetischen Aktionäre zum Bau des AWO-Motorrades als Glücksfall. Und auch nach 1990 war es wohl Zufall, dass die Firma genau an solche Treuhand-Manager geriet, die sich eine teilweise Rückübertragung an die Simson-Erben in Amerika nicht vorstellen wollten. Die Familie konnte sich eine Rückkehr aus Amerika nach Suhl ernsthaft vorstellen - auch wenn sie eine lange Durststrecke voraussah, wollte sie doch mit über 600 Mitarbeitern "Simson" in die Marktwirtschaft führen. Das wäre ein einzigartiger Fall gewesen - mit wirtschaftlichen Folgen für die Stadt Suhl. Vor allem aber mit politischer Symbolwirkung weltweit: Der braune Terror, die Enteignung durch die Nazis - er hätte am doch keine Tatsachen geschaffen. Und den Erben der Familie hätte man schon abnehmen können, dass sie sich in Suhl ehrlich engagieren wollen.

Rückkehr geplant

Die Treuhand lehnte bekanntlich ab - niederländisch-französische Investoren kamen zum Zug, die nach einem Jahr aufgaben. Die Autorin nennt das Treuhand-Verhalten im Nachhinein und in Kenntnis vieler Details kriminell. Recherchiert hat Ulrike Schulz in den Unterlagen der Simson-Erben. Die Archive der Treuhand blieben ihr verschlossen. Für die Arbeit selbst hat die Autorin fast ausschließlich Archivmaterial verwendet. Die vielen Gespräche mit Zeitzeugen dienten ihr in erster Linie zum Verständnis. Das mag der Leser des Buchs schade finden - minder spannend aber ist es dadurch nicht.

Ulrike Schulz: "Simson" - Wallstein-Verlag 2013. Das Buch hat den Preis für Unternehmensgeschichte 2012 erhalten und ist im Buchhaus Suhl erhältlich.