Wer Geschichte schreibt, merkt das meist erst hinterher. Eine heruntergekommene Villa im Berliner Stadtteil Niederschönhausen. "Die Haustür war wie üblich unverschlossen", schreibt Rolf Schneider. Er drückt am Abend des 17. November 1976 die Klinke herunter. "In der Garderobe hänge ich meinen Mantel neben das dort lehnende Jagdgewehr". Er geht ins Wohnzimmer der Familie Hermlin. Dort sitzen Gerhard und Christa Wolf, Sarah Kirsch, Volker Braun, Günter Kuhnert, Heiner Müller, Stefan Heym. Man formulierte einen Text, der formal gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestierte, und der in Umlauf gebracht werden sollte. Am Morgen des 17. November hatte das SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" einen üblen Kommentar zu Biermann gedruckt. Doch was nun in der kleinen DDR passieren würde, ahnte die intellektuelle Abendgesellschaft nicht.

Kapitel ohne Namen

In Kapitel 28 seiner Lebenserinnerungen fügt Rolf Schneider jene Erlebnisse noch einmal zusammen. "Schonzeiten" hat er das Buch genannt. Die Kapitel tragen keine Namen. Ein Kapitel unter vielen - könnte man meinen. Ein Kapitel, das in nicht mal einer halben Stunde vorgelesen ist am Dienstagabend beim Provinzschrei in der Suhler Stadtbibliothek, doch das sein Leben nachhaltig prägen sollte. "Keiner von uns hatte das Ausmaß der Reaktionen vorhergesehen", schreibt Rolf Schneider. Auch für ihn blieb nichts, wie es war. Und doch hatten sie mit ihrer Protestresolution Geschichte geschrieben. Ihr folgte der größte künstlerische Aderlass der DDR.

Ein Linker zu sein, diese Apostrophierung nehme er für sein gesamtes Leben in Anspruch, sagt Schneider in Suhl. Es war nicht der Protest gegen ein System, der ihn damals antrieb. "Eine von einem deutschen Staat vorgenommene Ausbürgerung zeigte sich schon wegen vergleichbarer Aktionen Nazideutschlands, als kontaminiert. Zudem galt sie dem Kind eines in Auschwitz ermordeten jüdischen Kommunisten. Es hatte mit Selbstachtung zu tun, dass man nicht schwieg", formuliert Rolf Schneider. Unter anderem wegen dieser Ausbürgerung hat er sein Erinnerungsbuch geschrieben.

Es fängt an mit dem Prozess gegen Egon Krenz wegen des Schießbefehls an der Mauer. Es endet mit einem pessimistischen Ausblick auf die Zukunft der kapitalistischen Gesellschaft. Er ist in China, in der Nachts von Millionen Lichtern erhellten Sonderwirtschaftszone Shenzhen und stellt sich vor, was wäre, würden die chinesischen Massen "hungrig und voll Erbitterung" die Straßen stürmen. Sie schleifen die Paläste des neuen Reichtums. Verträge mit dem Westen - nicht mehr als ein Fetzen Papier. Rolf Schneider nimmt das Boot zurück nach Hong Kong. "Allmählich schwimmt die Skyline von Victoria Harbor heran, mit tausend erleuchteten Fenstern, mit vom Licht gekennzeichneten Konturen, die sich im Wasser des Hafens spiegeln, es ist ein majestätisches Bild, sehr luxuriös, sehr bedroht und sehr vergänglich."

Eine runde Stunde liest Rolf Schneider an diesem Dienstagabend in Suhl. Was er dabei anreißt, sind Beobachtungen und Erlebnisse, die im Kleinen erklären können, wie Gesellschaft damals funktioniert hat und wie sie heute funktioniert. Mit Misstrauen betrachtet der Autor nämlich nicht nur die Trugbilder des Sozialismus. Und beim Blick zurück fällt ihm nicht leicht, die sich widerstreitenden Gefühle zu ordnen: DDR war eben auch Heimat für ihn - in vielerlei Hinsicht.

Verschenkt

Indes: Aus diesem Abend der Stadtbücherei Suhl in Kooperation mit dem Provinzschrei-Festival wäre weit mehr zu machen gewesen als eine Stunde Lese-Programm, wenn die Veranstalter dem Autor einfach zum Weiterlesen animiert hätten oder ein Moderator und Stichwortgeber mit Rolf Schneider ins Gespräch gekommen wäre. Doch dazu hätte es wohl ein bisschen mehr Vorbereitung gebraucht oder vielleicht auch eine Idee, über was man mit einem so interessanten Autor und Zeitzeugen hätte ins Gespräch kommen wollen. Verschenkt - leider.

Das weitere Festivalprogramm: www.provinzschrei.de